Samstag, 14. Oktober 2023

Totalblockade des Gazastreifens, tote Zivilisten, drohende Bodenoffensive: Das sagt das Völkerrecht

Nach den Terrorattacken der islamistischen Hamas geht Israel mit großer Härte gegen die Organisation vor. Die Palästinenser im Gazastreifen sind Leidtragende. Wie sieht das Völkerrecht die Lage?

Kinder werden bei den Angriffen auf den Gazastreifen täglich verletzt. So auch dieses Mädchen, das am heutigen Samstag bei einem israelischen Luftangriff verletzt wurde. - Foto: © APA/afp / YASSER QUDIH

Der äußerst blutige Konflikt zwischen der Hamas und Israel wirft viele Fragen auf. Neben Soldaten und Kämpfern werden auch viele Zivilisten auf beiden Seiten verwundet, getötet oder entführt. Die Abriegelung Gazas und das Vorgehen Israels könnten illegal sein. Was sagt das humanitäre Völkerrecht, und wo ist die Grenze zu Kriegsverbrechen? Die wichtigsten Fragen und Antworten.



Gilt bei diesem Konflikt das humanitäre Völkerrecht?
Ja. Es ist unerheblich, ob es sich um einen erklärten Krieg, einen internationalen bewaffneten Konflikt oder einen internen bewaffneten Konflikt handelt. Das Grundprinzip des sogenannten humanitären Völkerrechts – der internationalen Regeln zur Kriegsführung – ist in allen Fällen, dass Zivilisten so weit wie möglich geschützt werden müssen. Angriffe dürfen immer nur auf militärische Ziele erfolgen.

Aus Sicht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (ICRC), das weltweit die Einhaltung des Kriegsrechts überwacht, besteht ein „bewaffneter Konflikt“ zwischen Israel und einer nichtstaatlichen bewaffneten Gruppierung – dem militärischen Arm der Hamas. Laut Rotem Kreuz gilt auch in diesem Fall das humanitäre Völkerrecht.

Wie ist der Einsatz menschlicher Schutzschilder zu beurteilen?
Wer Zivilpersonen benutzt, um militärische Ziele zu schützen, begeht
nach den Worten der Völkerrechts-Expertin der Universität Basel,
Anna Petrig, eindeutig ein Kriegsverbrechen. „Das ist nie erlaubt.“
Vor diesem Hintergrund scheint auch die Aufforderung der Hamas an die Bevölkerung des Gazastreifens, dessen Nordhälfte trotz
israelischer Warnungen nicht zu verlassen, problematisch.

Darf Israel Ziele angreifen, auch wenn Zivilisten gefährdet sind?
Im Prinzip ja, sagt Völkerrechts-Expertin Petrig. Solange es sich um
ein militärisches Ziel handle, sei das rechtlich zunächst nicht zu
beanstanden. Zivile Kollateralschäden müssten aber verhältnismäßig
zum erzielten militärischen Vorteil sein. Die Zerstörung eines
großen Militärflughafens rechtfertigt demnach mehr zivile Opfer als
der Angriff auf eine kleine militärische Stellung.

Darf Israel den Bewohnern im Gazastreifen Gas und Wasser abdrehen?
Solch eine Belagerung sei eine „kollektive Bestrafung“ der Zivilbevölkerung, die nach internationalem Recht strikt verboten sei, sagte die Sprecherin des UN-Büros für Menschenrechte, Ravina Shamdasani.

Petrig sagt hingegen: „Belagerung ist grundsätzlich keine verbotene Kriegsmethode.“ Sollte das Ziel aber sein, die Bevölkerung auszuhungern, wäre es verboten und sogar ein Kriegsverbrechen.

Wie ist der Aufruf zur Massenevakuierung in Nord-Gaza einzuordnen?
Die Anweisung aus Israel zur Räumung des nördlichen Gazastreifens
widerspräche zusammen mit der Belagerung internationalem Recht,
stellte das ICRC fest. In dem dicht besiedelten Küstenstreifen habe
die Bevölkerung keine Chance, sich woanders in Sicherheit zu
bringen, argumentierte das Rote Kreuz.

Wie ist eine israelische Bodenoffensive in Gaza zu beurteilen?
Auch hier gilt: Solange militärische Ziele im Visier sind und die
Zahl der zivilen Opfer nicht unverhältnismäßig ist, darf ein Staat
auch in einem sehr dicht besiedelten Gebiet vorgehen. Die
Beurteilung der Verhältnismäßigkeit ist laut Petrig an keine
definierte Obergrenze bei den zivilen Opfern gebunden.

Wer soll die Frage von Kriegsverbrechen beurteilen?
Dafür käme – wie zum Beispiel bei der Aufarbeitung der Gräuel der
Jugoslawienkriege – der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag
infrage.

Schützt das humanitäre Völkerrecht die Zivilisten wirksam?
Das humanitäre Völkerrecht versucht einen Ausgleich zwischen
militärischen Interessen und der Menschlichkeit. Bei zu strikten
Regeln würden sich die Militärs von vornherein nicht daran halten,
meint Petrig. Aufschlussreich sei das fachliche Synonym für
humanitäres Völkerrecht: „Das Recht des bewaffneten Konflikts.“

„Totalblockade“ des Gazastreifens – UNO-Hochkommissar übt scharfe Kritik an Maßnahmen

Unmittelbar nach dem Großangriff der Hamas hatte Israels Regierung die Versorgung des Gazastreifens gestoppt. Die Lieferung von Strom, Treibstoff, Lebensmitteln, Trinkwasser und anderen Gütern wurde von einem Tag auf den anderen eingestellt. Der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, übte scharfe Kritik an den Maßnahmen, die gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen würden. Auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz bezeichnete die Abriegelung als nicht vereinbar mit dem gebotenen Schutz von Zivilisten.

Israel argumentierte die „Totalblockade“, wie sie Verteidigungsminister Joav Galant nannte, mit dem Selbstverteidigungsrecht. „Kein Strom, kein Essen, kein Sprit, alles ist abgeriegelt. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir handeln dementsprechend“, sagte Galant. Energieminister Israel Katz will den Gazastreifen erst versorgen, wenn die Geiseln der Hamas freigelassen werden. „Kein Stromschalter wird umgelegt, kein Wasserhahn geöffnet und kein Treibstofflaster fährt rein, bis die israelischen Geiseln nach Hause zurückgekehrt sind.“

Seit dem Angriff der Hamas am Samstag sind auf beiden Seiten Tausende Menschen gestorben.

Mehr zum Krieg in Israel lesen Sie hier.

apa/stol

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