Sonntag, 1. Oktober 2023

Herr Dorfmann, hat die EU Fehler gemacht?

Finanzkrise, Ukraine-Krieg, eine Gesellschaft, die auseinanderdriftet: Die Europäische Union hat seit einigen Jahren mit vielen Krisen zu kämpfen. Ist die EU noch auf dem richtigen Weg und ist sie stark genug, diesen Krisen etwas entgegenzusetzen? Das sagt der Südtiroler EU-Parlamentarier Herbert Dorfmann im STOL-Sonntags-Gespräch dazu.

Herbert Dorfmann: „Das ist derzeit für mich kein Thema mehr.“

Von:
Arnold Sorg
STOL: Herr Dorfmann, seit eineinhalb Jahren herrscht Krieg mitten in Europa. Wie hat dieser Krieg die EU verändert: Gibt es mehr Zusammenhalt oder ist das Gegenteil passiert?
Herbert Dorfmann: Der Krieg hat Europa zusammengeschweißt, ich habe selten die EU-Mitgliedsstaaten so einig gesehen, wie in den Entscheidungen, in denen es um die Ukraine ging. Aber nichtsdestotrotz hat sich niemand vorstellen können, dass es noch einmal einen Krieg mitten in Europa geben wird. Der Schock sitzt immer noch tief und ich denke, dieser Krieg wird die EU auch weiterhin verändern. Ich kann mir vorstellen, dass der EU-Beitritt der Ukraine nach Kriegsende sehr zügig über die Bühne gehen wird. Das wird ein großer Schritt für die Europäische Union, die Ukraine wäre dann das flächenmäßig größte Mitgliedsland.

Die Europäische Union hat sich sehr kooperativ mit der Ukraine gezeigt. Ich denke, dass der Fehler nicht bei uns liegt, sondern bei Russland.
Herbert Dorfmann, EU-Parlamentarier


STOL: Es kann zwar niemand voraussagen, aber glauben Sie, dass sich dieser Krieg noch lange hinziehen wird?
Dorfmann: Ich hoffe, dass er schnell zu Ende geht, aber sagen kann das derzeit niemand. Nach Kriegsende wird es aber einen großen politischen Druck geben, dass die Ukraine sehr schnell Beitrittsverhandlungen mit der EU aufnimmt.

STOL: Hat die EU Fehler gemacht, hätte die EU etwas tun können, um diesen Krieg zu vermeiden?
Dorfmann: Nein, ich glaube nicht, dass wir Fehler gemacht haben. Natürlich hätte man schon früher in Erwägung ziehen können, die Ukraine in die Europäischen Union aufzunehmen. In den vergangenen Jahren haben wir aber versucht, die Ukraine näher an uns zu binden. Die Europäische Union hat sich sehr kooperativ mit der Ukraine gezeigt. Ich denke, dass der Fehler also nicht bei uns liegt, sondern bei Russland.

EU-Parlamentarier Herbert Dorfmann (rechts) im Gespräch mit Arnold Sorg (links).



STOL: Sie haben gesagt, die EU ist enger aneinandergerückt. Es gab in den vergangenen Jahren aber immer wieder Fälle, in denen Mitgliedsländer die Regeln gebrochen haben. Trotzdem ist kaum etwas passiert. Ist die EU zu zaghaft, wenn es darum geht, Sanktionen zu verhängen?
Dorfmann: Ich denke, wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass es in der EU 27 Mitgliedstaaten gibt, die auf demokratischem Wege gewählt wurden, auch die Regierungen in Ungarn und in Polen. Wir müssen den Balanceakt finden zwischen einer demokratisch legitimierten Regierung und dem gemeinsamen europäischen Interesse. Ich denke, es ist nicht Aufgabe der Europäischen Union, sich in jede Kleinigkeit einzumischen. Wenn aber ein Staat, und das sehen wir bei Ungarn und auch bei Polen, sich von der Demokratie weg entwickelt, dann müssen wir eingreifen.

Das haben wir übrigens in den letzten Jahren auch mehrmals getan. Wir haben ja einen eigenen Mechanismus auf den Weg gebracht, der auch halbwegs funktioniert. Aber ich glaube, jeder Konflikt mit den Mitgliedstaaten muss letztendlich auch diplomatisch oder in Zusammenarbeit mit den Mitgliedsstaaten gelöst werden. Wir sind ja nicht die europäische Supermacht, die sozusagen wie die Vereinigten Staaten von Amerika von Washington aus dirigiert. Wir müssen diese Zusammenarbeit und diesen Balanceakt finden.



STOL: Aber wäre das sinnvoller, so ein Konstrukt zu sein wie die USA, also die Vereinigten Staaten von Europa?
Dorfmann: Ich glaube, dafür gibt es derzeit ganz einfach keine politische Mehrheit in Europa. Wir haben das, was wir haben. Die Europäische Union ist das Ergebnis politischer Arbeit der letzten 70 Jahre. Man darf nicht vergessen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika 250 Jahre alt sind. Auch Europa wird seinen Weg noch gehen. Ich glaube letztendlich muss man ein politisches System auch nicht daran bewerten, ob ein Präsident oder eine Regierung besonders mächtig ist. Letztendlich geht es ja darum, ob es den Menschen gut geht. Das ist ja das eigentliche Ziel der Politik.

Es hat lange den großen politischen Konsens in Europa gegeben, dass man die Europäische Union weiterentwickeln will. Inzwischen gibt es doch einige Parteien, die das nicht mehr so sehen.
Herbert Dorfmann, EU-Parlamentarier


STOL: Seit einiger Zeit ist zu beobachten, dass die Gesellschaft heterogener wird und sich vermehrt Extreme bilden, sei es auf linker als auch auf rechter Seite. Die Gesellschaft, hat man das Gefühl, driftet auseinander. Ist die EU stark genug, diesen Kräften entgegenzuwirken?
Dorfmann: Das Phänomen trifft ja nicht nur die Europäische Union, dieses Phänomen, würde ich sagen, betrifft alle Bereiche. Die Politik muss mit der Gesellschaft umgehen. Das heißt, wir können nicht die Gesellschaft erfinden, die wir gerne hätten, sondern die Situation ist die, die sie ist. Seit der Corona-Pandemie ist die Gesellschaft weiter auseinandergedriftet, das stimmt. Wir sehen, dass extreme politische Positionen zunehmen, sowohl auf europäischer Ebene als auch innerhalb der Mitgliedstaaten. Es hat lange den großen politischen Konsens in Europa gegeben, dass man die Europäische Union weiterentwickeln will. Inzwischen gibt es doch einige Parteien, die das nicht mehr so sehen. Das ist eine Herausforderung. Aber die Politik muss mit einer solchen Herausforderung umgehen. Wir haben demokratische Systeme, die Bürger wählen Abgeordnete. Das haben wir zu akzeptieren und damit müssen wir umgehen.



STOL: Welche Lehren kann man aus der Pandemie ziehen, hat die EU schnell genug gehandelt?
Dorfmann: Im Nachhinein würde man natürlich manche Dinge besser machen, aber das ist bei vielen Dingen so. Ich glaube schon, dass die Europäische Union in vielen Bereichen schnell und effizient gehandelt hat, zum Beispiel beim Bereitstellen von Impfstoffen, auch beim Aufrechterhalten des Binnenhandels. In anderen Dingen ist es schlechter gegangen, und da haben wir auch gesehen, wie schnell europäische Grundwerte wieder verloren gehen. Dass es 2 Jahre lang nicht gelungen ist, gemeinsame Reisebestimmungen auf den Weg zu bekommen, weil jeder Mitgliedstaat sein eigenes Süppchen kochen wollte, das hat mich das schon sehr bedenklich gestimmt. Aber schlussendlich hat die Europäische Union immer aus Krisen gelernt.

Die Verteilung ist und bleibt aber schwierig, weil die Flüchtlinge Menschen sind und weil die Menschen ja letztendlich sich nicht einfach verteilen lassen.
Herbert Dorfmann, EU-Parlamentarier



STOL: Kommen wir zur Migration. Da gibt es jetzt Verhandlungen mit den Herkunftsländern. Wäre es nicht besser, vielleicht unter den EU 27 eine Art Verteilungsschlüssel einzuführen und diesen konsequent durchzuziehen?
Dorfmann: Die Migration ist einer jener Bereiche, wo ich leider feststelle, dass sich in den vergangenen 10 Jahren sehr wenig getan hat. Da gibt es unterschiedliche Interessen und da gibt es letztendlich auch sehr viel Egoismus. Ich denke, wir müssen dringendst ein gemeinsames System entwickeln. Dieser Flüchtlingspakt, den wir jetzt noch vor den Wahlen über die Bühne bringen wollen, ist dringend notwendig. Und da wird es wahrscheinlich nicht eine einzige Maßnahme geben. Ich denke, die Zusammenarbeit mit Herkunftsländern ist und bleibt wichtig. Die Verteilung ist und bleibt aber schwierig, weil die Flüchtlinge Menschen sind und weil die Menschen ja letztendlich sich nicht einfach verteilen lassen. Das heißt, die Flüchtlinge wollen dorthin, wo sie eine wirtschaftliche Zukunft sehen. Und sie wollen lieber in die Niederlande und nach Belgien oder nach Deutschland als nach Bulgarien. Deswegen ist die Idee, man könnte sie einfach verteilen über die Europäische Union, etwas zu einfach gedacht. Ich persönlich glaube, dass wir legale Wege der Migration finden müssen, dass wir also Wege öffnen müssen in die Europäische Union, aber gleichzeitig die Wege für illegale Migration schließen müssen.

Ich glaube, dass der Minderheitenschutz insgesamt, auch der Schutz der Sprachen, vor Jahren noch als wichtiger empfunden wurde, als er heute empfunden wird.
Herbert Dorfmann, EU-Parlamentarier


STOL: Es hat einen Aufschrei gegeben, als die italienische Regierung unter Giorgia Meloni angetreten ist. Wie wird diese Regierung mittlerweile in der EU wahrgenommen?
Dorfmann: Meloni hat am Anfang ihrer Amtszeit ein ganz wichtiges Zeichen gesetzt, indem sie sehr klar gesagt hat, dass sie proeuropäisch denkt, dass sie im Ukrainekonflikt auf der Seite der Ukraine und nicht auf der Seite Russlands steht. Ich denke, mit dieser klaren Positionierung hat sie sehr viel Kritik, die im Vorfeld da war, weggenommen und die italienische Regierung hat sich auch gegenüber den europäischen Institutionen in den vergangenen Monaten sehr kooperativ gezeigt. Ich denke, die italienische Regierung arbeitet derzeit besser mit der Europäischen Union zusammen als viele andere Mitgliedsstaaten.

STOL: Wie ist es denn um den Minderheitenschutz in der EU bestellt? Wird Südtirol auf EU-Ebene überhaupt wahrgenommen?
Dorfmann: Wir treten da schon ein bisschen auf der Stelle. Ich glaube, dass der Minderheitenschutz insgesamt, auch der Schutz der Sprachen, vor Jahren noch als wichtiger empfunden wurde, als er heute empfunden wird. Dass manchmal nicht verstanden wird, dass der Schutz von Minderheiten auch ein Schlüssel zum Frieden ist. Aber auch in ganz konkreten Dingen, wie zum Beispiel dem Aufheben des Geoblocking, geht zu wenig weiter. Das ist ein ganz wichtiges Element, um Menschen den Zugang zum Kulturraum zu ermöglichen. Da kommen wir leider sehr, sehr langsam vorwärts.

Das ist derzeit für mich kein Thema mehr. Das war vielleicht in den ersten Jahren noch eine Option, aber ich habe in Brüssel meine politische Aufgabe gefunden.
Herbert Dorfmann, EU-Parlamentarier


STOL: Im kommenden Jahren sind EU-Wahlen: Kandidieren Sie erneut?
Dorfmann: Jetzt haben wir zuerst die Landtagswahlen Südtirol und dann muss man schauen, wie die politische Voraussetzung ist. Ich habe immer gesagt, wenn die politischen Voraussetzungen stimmen und wenn ich den Eindruck habe, dass ich noch mal für 5 Jahre gebraucht werde, dann kann ich mir das durchaus noch mal vorstellen. Und sonst habe ich 15 schöne Jahre in Brüssel gehabt.

STOL: Haben Sie nie daran gedacht, in die Landespolitik nach Südtirol zu wechseln?
Dorfmann: Das ist derzeit für mich kein Thema mehr. Das war vielleicht in den ersten Jahren noch eine Option, aber ich habe in Brüssel meine politische Aufgabe gefunden. Wir haben sehr viele fähige Politiker hier in Südtirol. Ich leiste vielleicht derzeit den besseren Dienst in Brüssel.

STOL: Weil Sie die Landtagswahl ansprechen: Wie viele Mandate wird die SVP erreichen?
Dorfmann: Ich bleibe zuversichtlich. Ich denke, wir werden die Landtagswahl ordentlich schlagen. Das Ziel muss es natürlich sein, mindestens die 15 Mandate, die wir heute haben, zu verteidigen. Andererseits haben wir in Südtirol über mehrere Jahrzehnte gesehen, wie sich die italienische Volksgruppe in Gruppen und Grüppchen aufgeteilt hat und sich politisch nie einig war. Und wir haben immer darauf verwiesen, dass wir als deutschsprachige Sprachgruppe doch relativ einig. Vielleicht ist es jetzt umgekehrt: Die italienische Volksgruppe gibt relativ kompakt und wir spalten uns auf.

STOL: Sie sagen also, wir haben italienische Verhältnisse?
Dorfmann: Ja, leider.

stol

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