Sonntag, 21. Mai 2023

Borkenkäfer: Das kleinste Biest ist die größte Gefahr

Welches Tier bedroht das Leben in den Alpen, so wie wir es kennen, am meisten: Bär, Wolf oder Borkenkäfer? Auf diese Frage hat Forstexperte Prof. Ralf Petercord eine klare Antwort: „Der Borkenkäfer. Er verursacht große Veränderungen in den Ökosystemen“ – denn er bringt ganze Wälder zum Absterben. Für ein Land wie Südtirol bedeutet das: Die Berghänge werden instabil.

Prof. Ralf Petercord, Forstexperte, Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen: Er ist einer der führenden Borkenkäfer-Experten in Deutschland. Im November ist er vom Landtag zum Thema angehört worden. - Foto: © privat

Von:
Katrin Niedermair
STOL: Die Borkenkäfer in Südtirol sind ausgeflogen. Und jetzt?
Ralf Petercord: Es war zu erwarten, dass nach dem letzten Jahr wieder ein starker Flug beginnen kann. Die Populationsdichte ist sicherlich hoch. Die Wintermortalität ist erfahrungsgemäß nicht riesig. Man schafft es nicht, die Population über den Winter so zu auszudünnen, dass man alle Bereiche geklärt hat. Das ist ganz schwierig – gerade in den Lagen, wo die Bringung des Holzes schwierig ist. Es war ja einer der empfohlenen Ansätze, dass man sich auf Schwerpunktbereiche konzentriert – auf Flächen, auf denen man etwas bewirken kann. Vielleicht ist das gelungen. Aber selbst dann ist es unglaublich schwierig. Man muss die ganze Zeit dranbleiben. Wenn jetzt der Flug begonnen hat, gilt es wieder, schnell zu suchen und die grünen Bäume, die jetzt befallen sind, gleich aus dem Wald herauszubringen. Man muss sehen, dass man den Wald erhält – schon allein wegen der anderen drohenden Naturgefahren. (Hier lesen Sie, was Ralf Petercord im November empfohlen hat.)

STOL: Wie?
Petercord: Man muss die Brut vernichten. Das ist die Kunst. Dazu muss man nicht das gesamte Holz aus den Beständen herausfahren. Man kann das abgestorbene Holz als Querleger hinbringen, um Steinschläge oder Muren abzufangen. Auch Hochstubben sind eine Möglichkeit: Der abgestorbene Wald kann einen Beitrag leisten. Es geht darum, schnell wieder Wald hinzubekommen. Nur Wald liefert eine finanziell günstige Alternative gegen Naturgefahren. Alles künstlich zu verbauen: Das sieht nicht gut aus und ist unglaublich teuer.

STOL: In Südtirol hat es nun im Mai länger geregnet: Hilft uns das Wetter gegen den Borkenkäfer?
Petercord: Es hilft. Es verlangsamt die Entwicklung der Käfer. Das ist schon mal gut. Letztlich ist es aber so: Wo sich die Borkenkäfer erfolgreich eingebohrt haben, da sitzen sie drin und arbeiten fleißig weiter an der Zerstörung der Bäume. Es verschafft uns aber ein bisschen Zeit und Luft. Das dicke Ende kommt im Sommer: Da zeigt sich, wie stark die zweite Generation ausfliegt. Jetzt kann man noch viel machen und erreichen, wenn man dranbleibt. Das Regenwetter hat aber auch einen Nachteil: Wir finden die betroffenen Bäume ja in dieser Anfangsphase des Befalls nur durch den Bohrmehlauswurf. Wenn es jetzt immer regnet, ist die Suche nach diesen Bäumen natürlich ausgesprochen schwierig. Man braucht schon 2 oder 3 Tage schönes Wetter, wenn man terrestrisch suchen will, um die Bäume, die befallen sind, zu finden.

Der Buchdrucker vulgo Borkenkäfer. - Foto: © shutterstock



STOL: Hilft der Regen den befallenen Bäumen?
Petercord: Den befallenen Bäumen hilft das Wetter nicht mehr. Die werden nicht gesunden. Wenn der Käfer drin ist, ist er drin. Dann kann es so viel regnen, wie es will. Es verlangsamt die Entwicklung – aber letztlich geht es nur um Wochen.

STOL: Wie verlangsamt das Wetter die Entwicklung der Käfer?
Petercord: Eine normale Borkenkäferentwicklung dauert etwa 10 Wochen. Wenn der Käfer schnell ist, kann der Zyklus auch in 5 Wochen abgeschlossen sein – bei günstigen Bedingungen. Er kann auch 11 oder 12 Wochen dauern. Je länger, desto mehr Zeit haben wir zu reagieren. Aber es muss klar sein: Man muss schnell sein, viele befallene Bäume schnell rausholen. Das Gerede, wir hätten 5, 7 oder 10 Wochen Zeit, führt dazu, dass die Leute sich in Sicherheit wiegen. So viel Zeit ist es nicht: Bis man den Baum gefunden und eingeschlagen hat, bis man ihn aus dem Bestand draußen hat und bis er abgefahren ist, das dauert und kostet. Dementsprechend muss man wirklich dranbleiben.

Im Sommer fliegen fast immer Käfer, insbesondere wenn das Wetter warm ist und sie gute Bedingungen zum Schwärmen haben. Wenn die Mehrheit fertig entwickelt ist, besonders viele. Die überlagern sich dann und es werden mehr und mehr.
Ralf Petercord



STOL: Wie verändert das Wetter das Verhalten des Käfers?
Petercord: Bei schlechtem Wetter fliegt der Käfer gar nicht. Sie würden das Haus bei Schneesturm auch nicht verlassen. Auch bei starkem Wind fliegen die Käfer nicht. Wir haben immer wieder die Diskussion gehabt: Fliegen die Käfer los und werden dann mit dem Wind verdriftet? Ja, sie würden mit dem Wind verdriftet und einigen passiert das wohl auch. Aber unter normalen Bedingungen fliegen die einfach gar nicht, wenn der Wind stark weht. Sie können dann nämlich nicht mehr zielgerichtet fliegen. Für Insekten auf einer Wiese ist Regen wie ein Bombardement: Die werden hin- und hergeschleudert und kommen nicht mehr von der Stelle, wie sie sich das wünschen würden. Dementsprechend fliegen sie nicht. Die Käfer sind ja nicht doof. Sie merken mit ihren Sinnesorganen ganz genau, wie stark der Wind weht, wie warm es ist, und sie wissen, wie sie sich zu orientieren haben. Das dürfen wir nicht unterschätzen.

Der Buchdrucker ist nur wenige Millimeter groß. - Foto: © LPA/G.News



STOL: Borkenkäfer sind ja nur wenige Millimeter groß…
Petercord: So ein Baum ist riesig für so ein kleines Tier. Es ist ungefähr so, als würden Sie in ein Hochhaus mit 100 Stockwerken in New York gehen. Da suchen Sie jetzt den Herrn Maier, wissen aber nicht, auf welcher Etage er wohnt. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als zu suchen. Die Käfer haben die Aufgabe, den idealen Ort fürs Einbohren zu finden: Welchen Baum kann ich gut befallen? Welcher bietet gute Möglichkeiten für meine Brut? Wo ist die Stelle, an der sich der Baum am schlechtesten verteidigt und ich am besten reinkomme? Das ist schon eine Aufgabe – gerade für die ersten Käfer, die Pionierkäfer, die nach einem neuen Baum suchen. Es ist faszinierend, wie sie das machen.

STOL: Wie orientieren sich die Käfer im Wald?
Petercord: Im Wesentlichen mit dem Geruchs- und Tastsinn. Borkenkäfer orientieren sich auch an Silhouetten und mit Hilfe von Duftstoffen. So finden sie ihre Wirtsbäume. Haben sie die richtige Einbohrstelle gefunden, fertigen die Männchen des Buchdruckers eine erste Höhlung. Die heißt bezeichnenderweise Rammelkammer. Man kann sich ungefähr vorstellen, was da passiert. Beim Anlegen dieser Kammer geben die Männchen Pheromone ab – das sind nicht Sexual-, sondern eigentlich Aggregationslockstoffe. Damit zeigen sie an: Hey, Leute, ich hab einen Platz gefunden, wo man brüten kann. Auf diese Weise locken sie weitere Käfer und Weibchen an. Die Weibchen landen auf dem Baum und laufen die Rinde entlang, bis sie ihre Partner finden. In der Kammer findet die Paarung statt. Ein Männchen hat in der Regel 2 oder 3 Weibchen.

Unter der Rinde graben die Käfer ihre Gänge in den Baum.



STOL: Die Gangsysteme der Borkenkäfer sind charakteristisch: Warum fressen sie sich ausgerechnet in der Form unter der Rinde entlang?
Petercord: In der Regel ist der Muttergang ein Stimmgabel-Gang, der mehr oder weniger senkrecht, in Faserrichtung, unter der Rinde verläuft. Die Anlage eines Muttergangsystems dauert etwa 5 bis 14 Tage. In den Muttergängen werden die Eier in Nischen gelegt. Von dort aus fressen die Larven unter der Rinde ihren eigenen Larvengang, der quer zum Muttergang verläuft. Die Larven verpuppen sich in der Rinde und fliegen irgendwann ihrerseits wieder aus. Ein Brutbild hat etwa eine Länge von 20 oder 30 Zentimetern. Alle paar Zentimeter im Brutgang liegt ein Ei. Ein Weibchen legt bis zu 100 davon. In einem Brutsystem meist nicht gleich alle auf einmal, sondern erst 40, 50 oder 60. Später fliegen die Weibchen noch einmal los, um eine Geschwisterbrut anzulegen: Der gesamte Eivorrat eines Weibchens wird entweder in einem Baum in 2 Brutsystemen, häufig aber auch in 2 unterschiedlichen Bäumen abgelegt, in einem Abstand von etwa 3 Wochen. Dazwischen machen die Weibchen manchmal noch einen Regenerationsfraß von einigen Tagen, bevor sie das zweite Brutsystem, die Geschwisterbrut, anlegen. Das kann durchaus auch 2mal passieren: Es gibt dann eine Hauptbrut und eventuell 2 Geschwisterbruten. Alles zusammen ist eine Generation – die zeitlich natürlich etwas auseinanderfällt. Dadurch hat man dann im Sommer alle Stadien nebeneinander: Jungkäfer, Puppen, Larven und Altkäfer, die die Stämme befallen.

Foto: © LPA/Landesamt für Forstplanung



STOL: Das heißt, es fliegen im Sommer ständig Käfer aus?
Petercord: Im Sommer wird es manchmal unübersichtlich, die Flugphasen lassen sich nicht mehr abgrenzen. Im Sommer fliegen fast immer Käfer, insbesondere wenn das Wetter warm ist und sie gute Bedingungen zum Schwärmen haben. Wenn die Mehrheit fertig entwickelt ist, besonders viele. Die überlagern sich dann und es werden mehr und mehr.

STOL: Wie viele Käfer braucht es, um einen Baum abzutöten?
Petercord: 200 Käfer – je nach Konstitution des Baumes. So viele braucht es, um einen Baum zu überwinden. Er kann dann nicht mehr gesund werden und wird sukzessive absterben.

Ist die Wasserversorgung konstant gut, macht das die Verteidigung leichter. Aber: Letztlich kann jeder Baum überwunden werden. Es kommt nur darauf an, wie viele Käfer ihn anfliegen.
Ralf Petercord


STOL: Feuchtes und kühles Wetter soll ja auch den Bäumen helfen. Werden Bäume dadurch widerstandsfähiger?
Petercord: Nein.

STOL: Wie viel Regen bräuchte es dafür?
Petercord: Ein bisschen Regen hilft den Bäumen nicht. Bäume müssen einfach gut wasserversorgt sein. Die Frage ist: Wie gut sind die Bäume über den Winter gekommen? Wie viel Niederschlag hat es gegeben? Wie stehen die Bäume da? Waren sie durch vorhergehende Trockenphasen beschädigt? Wir denken zu wenig an die Wurzeln: Ein Baum braucht unglaublich viel Photosynthese, um sein Feinwurzelsystem zu regenerieren. Eine Feinwurzel lebt nicht so wahnsinnig lange: Mit den Feinwurzeln nimmt der Baum Wasser und Nährstoffe auf. Irgendwann muss er neue generieren. Das kann er besonders gut dann, wenn er gut mit Wasser und Nährstoffen versorgt ist und die Photosyntheseleistung gut ist. Er braucht viel Kohlenstoff, um das zu tun. Wenn ich Trockenphasen habe, reduziert sich die Zahl der Feinwurzeln: Der Baum kann seine Feinwurzelmasse nicht nachbilden. Nach so einer Trockenphase braucht er Zeit, das wieder in einem vernünftigen Maß zu tun. Dann nutzt ihm ein Regenschauer wenig. Ist die Wasserversorgung konstant gut, macht das die Verteidigung leichter.

STOL: Das klingt, als gebe es ein „Aber“...
Petercord: Letztlich kann jeder Baum überwunden werden. Es kommt nur darauf an, wie viele Käfer ihn anfliegen. Es ist nur eine Frage der Masse. Es gibt immer wieder Bäume, die es schaffen, einen Befall abzuwehren. Aber bei einer hohen Populationsdichte wird es schwer. Deshalb heißt es immer: Versucht, über den Winter die Populationsdichte so weit wie möglich runterzufahren, damit die erste Angriffswelle im April und Mai nicht so viele Bäume trifft und man noch reagieren und Bäume herausnehmen kann.

Ein vom Borkenkäfer befallener Hang in Villnöß: Solchen Befall gibt es inzwischen landauf landab.



STOL: In Südtirol rechnet man damit, dass aus den 6000 Hektar befallenem Wald von 2022 heuer 12.000 Hektar werden: Ein Zeichen dafür, dass sich Resignation breitmacht?
Petercord: 12.000 Hektar sind eine realistische Einschätzung. Es ist wichtig, dass man den Leuten sagt, welches Risiko besteht. Wir kommen in ein exponentielles Wachstum hinein. In Nordrhein-Westfalen hatten wir im ersten Befallsjahr eine Million Festmeter Schadholz, im Jahr darauf waren es 8 Millionen, dann 15 und 12, im letzten Jahr waren es fast 5 Millionen. Selbst in diesem Jahr rechnet man bei uns mit 3 Millionen Festmeter. Es ist für die Leute entmutigend zu hören, aber es zeigt auch die Dynamik des Käfers und das, was man zu verhindern suchen muss. Wenn man nichts tut, wird es nicht besser werden – im Gegenteil. Man kann etwas erreichen; Resignation, Aufgeben, das ist die völlig falsche Strategie. Das bringt einem nichts. Es ist wichtig, so viel zu retten wie möglich und schnell wieder aufzuforsten. Am besten wäre es, wir hätten den Wald schon verjüngt und auch andere Baumarten außer der Fichte mit hineingebracht. Dann hätten wir eine ganz andere Ausgangssituation. Aber das haben alle Waldbesitzer in Mitteleuropa zu wenig getan. Die Warnung vor Borkenkäferbefall gab es schon lange. Ich zähle mich selbst auch zu diesen Propheten, die immer schon gesagt haben: Leute, hier kommt eine Welle auf uns zu, die einzudämmen schwer wird, wenn wir uns nicht vorbereiten.

Wenn man nichts tut, wird es nicht besser werden – im Gegenteil.
Ralf Petercord


STOL: Der Rückgang des Befalls in Nordrhein-Westfalen, den Sie angesprochen haben, erklärt sich damit, dass der Fichtenbestand inzwischen zum Großteil verloren ist?
Petercord: Es gibt mehrere Faktoren, die eine große Rolle spielen. Wir hatten fichtenreiche Regionen: Dort haben wir 90 Prozent unserer Fichten verloren. Es stehen noch 10 Prozent, aber das sind Bäume, die für den Käfer zu schwach sind, zu alt oder an Standorten stehen, die für den Käfer ungünstig sind. Auch junge Bestände sind stehengeblieben. In diesen Bereichen ist der Befall erledigt. Es gibt auch Zonen, in denen wir immer noch Befall haben: Bei uns hat er sich von den tieferen Lagen in die höheren hineinentwickelt, was auch zu erwarten war.

Foto: © lpa



STOL: Was ist von der Hoffnung zu halten, dass die Borkenkäferpopulation nach 5 oder 6 Jahren von allein zusammenbrechen könnte?
Petercord: Es gibt solche Zyklen. Das Problem: Bis es soweit ist, hat der Käfer schon weite Teile des Landes verwüstet. Er hat dann schon massive Schäden verursacht. Wenn die Populationsdichte sehr hoch ist, haben die Käfer natürlich Konkurrenz um ihren Nahrungsraum. In der Folge werden die Käfer in ihrer Vitalität geschwächt, die Weibchen bleiben kleiner. Wenn die Weibchen kleiner sind, haben sie auch weniger Energie und einen kleineren Eivorrat. Dann legen sie statt 100 nur mehr 60 Eier. Dadurch gibt es eine natürliche Reduktion. Die Population kann nicht bis ins Unendliche wachsen. Durch die innerartliche Konkurrenz wird die Vitalität in der Population schlechter.

Während Sie darauf warten, dass die Population von selbst zusammenbricht, stirbt Ihr Wald ab. Ob das die richtige Strategie ist, sei dahingestellt.
Ralf Petercord


STOL: Der Borkenkäfer hat auch Feinde – zum Beispiel Spechte.
Petercord: Ein klassischer Vogel, der immer dort auftritt, wo es große Borkenkäferbestände gibt, ist der Dreizehenspecht. Er ist ein Borkenkäferspezialist. Der Dreizehenspecht ist nicht besonders reviergebunden. In Gebieten, in denen man in der Vergangenheit 3 Brutpaare hatte, sieht man nach solchen Massenvermehrungen des Borkenkäfers mehrere davon. Die Populationsdichte des Dreizehenspechtes wird aber durch die Populationsdichte des Borkenkäfers gesteuert – nicht umgekehrt. Die Beute steuert die Dichte des Räubers. Wenn die Vitalität des Borkenkäfers schlechter wird, ist natürlich der Einfluss des Dreizehenspechts etwas größer. Es gibt ein gewisses Regulativ; das sollte man aber nicht überbewerten.

STOL: Wer hofft, dass sich das Borkenkäferproblem von selbst erledigt, sitzt einer Träumerei auf?
Petercord: Natürlich können Sie eine Borkenkäfermassenvermehrung auch laufen lassen: In Nationalparks haben wir das gemacht. Dann werden eben alle Bäume weggefressen, die der Käfer irgendwie zu fassen kriegt. In einem 10.000 Hektar großen Nationalpark haben Sie dann 7000 Hektar, die kahlgefressen sind. Was haben Sie davon? Nichts, die Bäume sind weg. Während Sie darauf warten, dass die Population von selbst zusammenbricht, stirbt Ihr Wald ab. Ob das die richtige Strategie ist, sei dahingestellt. Die Ökologen schwärmen davon. Aber die haben auch nicht die Probleme. Ich bin immer begeistert davon, wenn unsere Wissenschaftler kommen und solche Geschichten erzählen. Nur: Draußen in der Praxis habe ich in Nordrhein-Westfalen gerade 146.000 Hektar Schadfläche. Natürlich hatten wir viele Fichtenbestände. Und man kann nicht sagen, die wären im Klimawandel standortgerecht gewesen – nur: Über 80 Jahre waren sie doch relativ stabil, sie sind gut gewachsen. Es war ein gutes Geschäft für die Forstverwaltung und für die Gesellschaft auch. Nach dem Zweiten Weltkrieg brauchten wir Bauholz für den Wiederaufbau unserer Städte. Die Fichte war als schnell wachsende Art ideal. Nun zeigt uns der Klimawandel, dass die Fichte hier nicht die richtige Baumart ist, sobald sich kleine Stellschrauben an den Standortbedingungen verändern. Die Standortferne dieser Baumart in niederen Lagen wird größer und übersteigt die Fähigkeit der natürlichen Abwehr.

Die Ökosystemgestalter sind die kleinen, die unscheinbaren, die unten irgendwo an den Wurzeln die Nährstoffkreisläufe am Leben erhalten oder in der Lage sind, durch ihre Massenvermehrung als Pflanzenfresser schnell große Umgestaltungen zu verursachen.
Ralf Petercord


STOL: In Südtirol ist der alpine Fichtenwald aber ein standorttypischer und auch den Borkenkäfer hat es immer schon gegeben. Warum also jetzt diese Explosion?
Petercord: Umso erschreckender sind die Probleme, die Sie jetzt haben. Den Borkenkäfer hat es im Alpenraum immer schon gegeben. Das ist keine Frage. Jetzt sehen wir aber durch den Temperaturanstieg, durch die veränderten Niederschlagsbedingungen, dass sich auch im Alpenraum massive Massenvermehrungen entwickeln können, die die eigentlich natürlichen Fichtenwälder massiv treffen können. Das hat es früher nicht gegeben. Früher hat der Borkenkäfer 3 Bäume befallen, eine Generation gemacht, dann war das Nest wieder erledigt; jetzt ist das anders. Das ist eindeutig der Klimawandel, der die Stellschraube einmal weitergedreht und ausgereicht hat, um die Borkenkäfer zu begünstigen. Das Gleichgewicht – wenn man von Gleichgewicht sprechen will – ist zugunsten des Borkenkäfers verschoben. Plötzlich hat er ein Übergewicht, die Waage schlägt nach unten trifft die Nahrungspflanze massiv.

STOL: Bär, Wolf oder Borkenkäfer: Von wem geht die größte Gefahr für das Leben in den Alpen aus, wie wir es kennen?
Petercord: Eindeutig vom Borkenkäfer. Bär und Wolf sind in aller Munde – sie machen erhebliche Schäden und Probleme für die Weidetierhaltung. Aber das sind Arten an der Spitze der Nahrungspyramide. Wenn man ehrlich ist, spielen die für das Ökosystem keine Rolle. Die Ökosystemgestalter sind die kleinen, die unscheinbaren, die unten irgendwo an den Wurzeln die Nährstoffkreisläufe am Leben erhalten oder in der Lage sind, durch ihre Massenvermehrung als Pflanzenfresser schnell große Umgestaltungen zu verursachen. Es hat nun im Trentino einen Todesfall durch einen Bären gegeben. Und auch wir werden in Nordrhein-Westfalen ähnliches mit dem Wolf erleben – dazu reicht schon, dass jemandem ein Wolf vors Auto läuft und sich der Fahrer schwer verletzt. Dass durch unglückliche Zufälle Wolf und Mensch aneinandergeraten, das kennt man: Weltweit sterben immer mal wieder Menschen durch Wolfs- oder Bärenattacken.Das Einzelschicksal ist heftig. Keine Frage. Wo Raubtiere leben, wird immer ein Risiko bestehen. Es ist grundsätzlich gering, aber es besteht.

Der Wolf bindet sehr viele Kapazitäten. Für die wirklich spannenden Arten des Naturschutzes haben wir keine Taskforces in den Ministerien.
Ralf Petercord


STOL: Warum ist der Borkenkäfer noch problematischer?
Petercord: Beim Borkenkäfer ist es so, dass er in der Lage ist, große Veränderungen in den Ökosystemen durchzuführen. Er kann es und es passiert, ob er das nun will oder nicht. Wir haben große Waldschäden, die erhebliche Probleme mit sich bringen. Früher wäre das nicht so schlimm gewesen: Da gab es Eisenbahnlinien und Autobahnen nicht. Wenn einmal irgendwo eine Lawine runtergekommen ist, war das eben so. Das hat möglicherweise jemanden getroffen, in den meisten Fällen aber nicht. Der Alpenraum war damals nicht so dicht besiedelt, wie er es heute ist. Heute ist das Risiko viel höher.

STOL: Trotzdem bekommt der kleine Schädling im Vergleich zum großen weniger Aufmerksamkeit.
Petercord: Der Wolf bindet sehr viele Kapazitäten. Für die wirklich spannenden Arten des Naturschutzes haben wir keine Taskforces in den Ministerien. Wolf, Bär und Luchs: Das sind spektakuläre Tiere, die kennt jeder, viele haben eine Affinität zu ihnen. Die Leute sind fasziniert davon. Borkenkäfer? Die Mehrheit kennt die gar nicht. Ich bin immer wieder überrascht, wenn ich einem Politiker mal so einen Borkenkäfer zeige. Die sind immer erstaunt, wie klein die Biester sind… Man muss auf die Relation achten: Es sind unterschiedliche Betrachtungsebenen. Durch den Käfer stirbt kein Mensch – zumindest nicht direkt. Durch den Bären schon. Dadurch gibt es eine ganz andere Betroffenheit. Wenn der Wald stirbt: Dass das Auswirkungen auf mein Leben hat, daran denke ich als normaler Mensch im ersten Moment gar nicht. Beim Bären ist die Gefahr sehr real. Bei schleichenden Prozessen erkennen wir die Gefahr nicht. Es ist wie beim Klimawandel. Wenn wir nicht gerade selbst in ein Hochwasser geraten, ist er für uns Menschen nicht so existenziell bedrohlich wie ein Bär, der vor uns steht. 1941 hat es in Deutschland die erste Promotion zum Thema Klimawandel gegeben: Seit damals wissen wir, dass sich unsere Lebensgrundlagen verändern werden. Was haben wir unternommen? Zu wenig.

kn

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