Sonntag, 17. Dezember 2023

„Wir müssen Russland die Stirn bieten“

Der Krieg in Nahost und in der Ukraine überlagert andere Konflikte wie jenen zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach. Der Kaukasus bleibt aber ein Unruheherd, das gilt auch für Georgien, wie das folgende Interview mit der Journalistin Tinatin Dvalishvili zeigt.

Die georgische Journalistin Tinatin Dvalishvili hat 25 Jahre Arbeitserfahrung in den Medien. Sie promoviert derzeit an der Akademie der Deutschen Welle. Dvalishvili steht den Oppositionsparteien nahe und ist eine Anhängerin des ehemaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili, der derzeit im Gefängnis sitzt und ein entschiedener Gegner der derzeitigen pro-russischen Regierung ist, die die Politik des Landes in den letzten Jahren verändert hat. - Foto: © Bojan Brezigar

Von Bojan Brezigar („Primorski Dnevnik“)


Über den Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien wird dieser Tage viel gesprochen. Georgien ist Nachbar dieser Staaten; wie ist die Lage in Ihrem Land?
Tinatin Dvalishvili: In der Kaukasusregion gibt es immer viele Krisenherde, vor allem wegen unseres Nachbarn Russland, der ständig Spannungen erzeugt. Russland hat vor Jahren Abchasien und dann Ossetien besetzt. 2008 hatten wir einen Krieg mit Russland. Die Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan schaden natürlich auch Georgien, weil wir Nachbarn sind, aber auch weil wir 2 große Minderheiten in Georgien haben, die armenische und die aserbaidschanische. Es handelt sich um eine Art Dreieck, in dem alle 3 Länder schwierige Beziehungen zu Russland haben. Für Georgien und Armenien sieht es sehr schlecht aus, weil wir diesen großen Nachbarn offensichtlich nicht ohne Blutvergießen loswerden können.

Von diesen 3 Ländern steht einzig Georgien auf der Liste der Kandidaten für die EU-Mitgliedschaft. Wie sieht es mit der Kandidatur aus?
Dvalishvili: Wir sind sehr zornig, weil unsere Regierung nicht versucht, den Prozess zu beschleunigen, sondern ihn vielmehr zu verlangsamen. Die EU fragt sich zu Recht, warum Georgien sich so verhält. Es gibt viele Worte und Botschaften, aber die Fakten sprechen eine andere Sprache. So hat die Regierung im vergangenen Jahr neue Gesetze verabschiedet, die gegen die Menschenrechte verstoßen.



Zum Beispiel?
Dvalishvili: Da wäre das Gesetz, das Straßenproteste und das Aufstellen von Zelten während Demonstrationen verbietet, was bei Langzeitprotesten üblich war. Hinzu kommt, dass die Behörden jedes Mal, wenn jemand in den Medien die Regierung kritisiert, die Medien mit einer hohen Geldstrafe belegen können. Sie sind so hoch, dass einigen Fernsehsendern die Schließung droht. Die Regierung sagt, es gehe um Maßnahmen gegen Hassreden, aber es handelt sich um Zensur, die gegen die Verfassung und die Gesetze verstößt. Im nächsten Jahr stehen Wahlen an, und die Regierung will sicherstellen, dass niemand protestieren kann.

Russland besetzt uns auf eine andere Art und Weise, nicht mit Panzern. Wenn man die Kontrolle über alle wichtigen Institutionen übernimmt, braucht man keine Panzer.
Tinatin Dvalishvili


Georgien wurde immer als Land gesehen, das mit dem Westen sympathisiert, so wie Armenien als ein pro-russisches Land und Aserbaidschan als ein Land, das der Türkei nahe steht, betrachtet wird.
Dvalishvili: Die Situation hat sich geändert. Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass Georgien immer ein pro-europäisches Land war. Das gilt nach wie vor für das georgische Volk, aber nicht für die von Oligarchen beeinflusste Regierung. Bidsina Iwanischwili (2012/13 Premierminister; Anm. der Red.) hat sein Vermögen in Russland gemacht, wurde Milliardär und kam nach Georgien, als Micheil Saakaschwili zum Präsidenten gewählt wurde. Er wurde von Putin mit einem klaren Auftrag nach Georgien geschickt: Er sollte Georgien wieder unter den Schutz Russlands stellen. Anfangs vertrauten wir ihm und glaubten ihm, er stellte eine Reihe guter Projekte vor und wir dachten, er liebe Georgien. Später begriffen wir, dass seine Aufgabe darin bestand, Saakaschwili abzusetzen und nicht nur eine pro-russische, sondern eine rein russische Regierung im Land zu etablieren.

Haben Sie noch andere Beispiele, um Ihre Aussagen zu untermauern?
Dvalishvili: Kürzlich wurden 3 Richter wegen Korrektur von Entscheidungen sanktioniert, aber sie sind immer noch im Amt. Der Generalstaatsanwalt wurde ebenfalls sanktioniert; die Amerikaner gaben sogar bekannt, dass er ein russischer Agent sei. Ist das zu verstehen? Der Staatsanwalt arbeitete für den KGB! Und die Regierung hat diesem Mann, der übrigens ebenfalls Millionär ist, all dies erlaubt. So können wir jeden Tag feststellen, dass diese Regierung nicht pro-russisch, sondern eher russisch ist. Er unterstützt Russland in allem, er behauptet ständig, dass Russland nicht gestört werden soll. Aber es ist klar, dass sie Georgien nach Russland führen, dass dies ihr Hauptziel ist. Außerdem wissen wir, dass Russland seine Marine von der Krim nach Otschamtschire verlegt hat, einem Hafen in Abchasien, einer Republik, die ihre Unabhängigkeit erklärt hat, aber von niemandem außer Russland und seinen engsten Verbündeten anerkannt wird. Wir betrachten Abchasien immer noch als Teil Georgiens. 300.000 Georgier sind aus Abchasien ausgewandert und leben als Flüchtlinge in Georgien. Wir verstehen nicht, warum die Regierung nicht protestiert, weil die russische Flotte in dem Hafen liegt, der für uns immer noch zu Georgien gehört.

Die Regierung sagt, es gehe um Maßnahmen gegen Hassreden, aber es handelt sich um Zensur, die gegen die Verfassung und die Gesetze verstößt. Im nächsten Jahr stehen Wahlen an, und die Regierung will sicherstellen, dass niemand protestieren kann.
Tinatin Dvalishvili


Ist diese Vorsicht der Regierung nicht von der Befürchtung diktiert, dass Russland Georgien besetzen würde, wenn die Regierung entschlossen protestieren würde?
Dvalishvili: Das kann sein, aber das ist kein Grund zu schweigen. Schließlich besetzt uns Russland auf eine andere Art und Weise, nicht mit Panzern. Wenn man die Kontrolle über alle wichtigen Institutionen übernimmt, braucht man keine Panzer. Auf diese Weise können wir kein integraler Bestandteil der Europäischen Union werden. Aber wir wollen Mitglied der EU sein. Deshalb müssen wir Russland die Stirn bieten.

Erwarten Sie eine Veränderung bei den Wahlen im nächsten Jahr?
Dvalishvili: Das erhoffen wir uns. Wir müssen dafür kämpfen, wir müssen alles Notwendige tun, um diese Wahlen vorzubereiten, aber wir müssen vorsichtig sein. Wir müssen unsere europäischen Freunde bitten, uns zu unterstützen und so viele Experten wie möglich nach Georgien zu schicken, denn ohne sie werden wir keine Veränderungen erreichen. Wir müssen den Menschen beweisen, dass diese Regierung einen Wandel nicht unterstützen kann.

Zum Autor:

Bojan Brezigar - Foto: © DLife/DF



„Primorski Dnevnik“ erscheint in Trst/Triest und ist die Nachfolgezeitung der slowenischen „Partizanski Dnevnik“, der einzigen gedruckten Partisanentageszeitung im faschistisch besetzten Europa während des Zweiten Weltkrieges. Bojan Brezigar war von 1992 bis 2007 ihr Chefredakteur.

stol

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