Dienstag, 4. Juni 2024

Vorsprung von Modis Hindu-Nationalisten schmilzt

Bei der Unterhauswahl in Indien wird die Partei von Ministerpräsident Narendra Modi wohl dramatisch schlechter abschneiden als noch kurz nach Schließung der Wahllokale vorhergesagt. Für Modi dürfte es dennoch für eine dritte Amtszeit reichen. Indische Medien berichteten am Dienstagabend unter Berufung auf das Ergebnis nach Auszählung nahezu aller Stimmen, Modis Parteien-Allianz NDA komme auf etwa 290 Sitze im Unterhaus - zur Mehrheit benötigt sie 272.

Narendra Modis Wahlsieg fiel wohl weniger spektakulär aus als erwartet. - Foto: © APA/AFP / PRAKASH SINGH

Am Samstag nach Schließung der Wahllokale hatten Nachwahl-Befragungen noch auf 350 Sitze hingedeutet, bis Dienstagmorgen war die Zahl dann schon auf 300 geschrumpft. Deutlich hinzugewinnen konnte indes das von Rahul Gandhi angeführte Oppositionsbündnis INDIA, das den Medien zufolge künftig mehr als 230 Abgeordnete stellen wird – und damit fast doppelt so viele wie noch am Samstag prognostiziert.

Für Modis Partei BJP ist das Ergebnis ein schwerer Schlag. Sie hatte bei den Wahlen 2014 und 2019 jeweils allein die Mehrheit der Abgeordneten stellen können und damit eine Ära unsicherer Koalitionsregierungen in Indien beenden können. In diesem Jahr hingegen kommt die BJP den Medienberichten zufolge wohl nur noch auf 240 Sitze – nach 303 im Jahr 2019.

Das Ergebnis hat Anleger aufgeschreckt. Die Kurse an der indischen Börse sackten am Dienstag um bis zu 8,5 Prozent ab, am Ende schloss der Index Nifty50 5,9 Prozent schwächer. Modi wird nun erstmals seit seiner Machtübernahme im Jahr 2014 auf mindestens 3 unterschiedliche regionale Parteien angewiesen sein, deren Zuverlässigkeit in den letzten Jahren nicht immer gegeben war. Experten zufolge bringt das nach einem Jahrzehnt, in dem Modi mit autoritärer Hand regiert hat, nun eine gewisse Unsicherheit in Indiens Politik. Am Montag waren die Börsen noch deutlich gestiegen in der Annahme, dass die NDA-Koalition eine Zweidrittelmehrheit erreichen könne und es weitere Jahre starken Wirtschaftswachstums und wirtschaftsfreundlicher Reformen gebe.

Modi: „Werde härter arbeiten“

Modi sagte am Dienstagabend vor Anhängern in Neu-Delhi, er werde künftig härter arbeiten und „große Entscheidungen“ treffen. Er werde sich vor allem auf die Branchen Elektronik, Halbleiter, Rüstungsproduktion, erneuerbare Energien und den Agrarsektor konzentrieren. Details dazu nannte er nicht. Ein Sprecher der BJP erklärte, man werde sich mit dem schlechten Ergebnis eingehend befassen „und das Ohr an der Basis haben“. Die NDA werde aber zum dritten Mal die Regierung bilden, Modi zum dritten Mal vereidigt werden und die Kongress-Partei zum dritten Mal in der Opposition sitzen.

Zwei wichtige NDA-Verbündete, die TDP und die United, wiesen Medien-Spekulationen zurück, sie könnten in ihrer Unterstützung für Modi wanken oder die Seiten wechseln. Oppositionsführer Gandhi sagte auf die Frage, ob er eine Regierungsbildung versuchen werde, seine Partei werde am Mittwoch Gespräche mit Verbündeten führen und über das weitere Vorgehen entscheiden.

Der Experte Ken Peng von Citi Global Wealth in Singapur sagte, die Kernfrage werde sein, ob die BJP ihre Einparteienmehrheit behalten könne. Wenn nicht, werde sich klären müssen, ob die Koalition die wirtschaftliche Entwicklung, insbesondere die Infrastruktur, vorantreiben könne. „Es könnte eine expansivere Fiskalpolitik geben, um die Sozialleistungen und andere lokale Regierungsausgaben zu stärken.“

Neelesh Surana vom Mirae Asset Mutual Fund sagte, die Reaktion der Finanzmärkte sei eine Überreaktion, die ein Gefühl der Ungläubigkeit widerspiegele. Denn wahrscheinlich werde es im Grunde weiter Kontinuität in der Regierungspolitik geben.

6 Wochen dauernde Abstimmung

Die 6 Wochen dauernde Abstimmung war am Samstag zu Ende gegangen. Die Auszählung erfolgte am Dienstag. Zunächst wurden die Briefwahlstimmen gezählt. Erstmals durften auch ältere Menschen über 85 und Menschen mit Beeinträchtigungen per Brief von zu Hause aus wählen. Hauptsächlich wurde jedoch elektronisch abgestimmt. Die Wahl war die größte Abstimmung der Welt. Gut eine Milliarde Inder und Inderinnen waren aufgerufen, ein neues Unterhaus zu wählen. 642 Millionen kamen dem nach, das entspricht einer Wahlbeteiligung von mehr als 66 Prozent. Aufgrund der Größe wurde die Wahl in sieben Phasen abgehalten.

Modi wäre erst der zweite Ministerpräsident Indiens mit einer dritten Amtszeit. Das gelang vor ihm nur Jawaharlal Nehru, dem ersten Ministerpräsidenten seit der Unabhängigkeit von Großbritannien 1947.

Modis wichtiger politischer Rivale, der Regierungschef des Hauptstadt-Unionsstaates Delhi, Arvind Kejriwal, sitzt im Gefängnis. Er war im März, kurz vor Beginn der Parlamentswahl, wegen Korruptionsvorwürfen inhaftiert worden.

Kejriwal, der jegliches Fehlverhalten bestreitet, wurde zwischenzeitlich aus der Haft entlassen, um an der Wahl teilnehmen zu können. Vor seiner Rückkehr ins Gefängnis sagte er: „Wenn die Macht zur Diktatur wird, dann ist eine Haftstrafe ein Zeichen von Verantwortung.“

Nach Erkenntnissen des US-Think-Tanks Freedom House nutzt die BJP zunehmend Regierungsinstitutionen, um gegen politische Gegner vorzugehen. Die Opposition und Menschenrechtsgruppen werfen Modi zudem vor, die hinduistische Mehrheit im Land zu bevorzugen. So bezeichnete Modi die 210 Millionen Muslime im Land im Wahlkampf als „Eindringlinge“ und „diejenigen mit mehr Kindern“. Beschwerden der Opposition über den Regierungschef blieben folgenlos.

Die Parlamentswahl in Indien war der größte demokratische Urnengang der Welt. Bis zum Samstag waren sechs Wochen lang mehr als 968 Millionen Menschen zur Stimmabgabe aufgerufen. Die Auszählung erfolgte durch spezielle Zählcomputer. Die endgültigen Ergebnisse wurden im Laufe des Dienstages erwartet.

apa

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