Lichtman geht für seine Vorhersage eine Reihe von „Richtig oder falsch“-Aussagen durch. Wenn sechs oder mehr dieser Feststellungen zu Ungunsten des Kandidaten derjenigen Partei ausfallen, die derzeit den Präsidenten stellt, geht die Wahl nach Lichtmans Überzeugung an dessen Herausforderer - dieses Jahr wäre das der Republikaner Trump.
Eine der zu überprüfenden Aussagen lautet etwa, ob die Präsidentenpartei Sitze bei der jüngsten Midterm-Wahl hinzugewonnen hat. Die Demokraten verloren 2022 allerdings die Mehrheit im US-Repräsentantenhaus, sodass sich bei dieser Frage die Waage in Richtung Trump neigt. Auch andere Faktoren sprechen für Trump. So tritt der demokratische Amtsinhaber Joe Biden entgegen seiner ursprünglichen Pläne nicht mehr an, Nachrückerin Harris verfügt also nicht über den wichtigen Amtsbonus.
Gegen Harris spricht laut Lichtman auch, dass sie zwar Zuversicht versprüht, aber nach seiner Analyse nicht mit dem Schlüsselfaktor punkten kann, eine so charismatische Kandidatin zu sein, wie sie nur ein Mal in einer Generation vorkommt. Diesen Vorteil hatten laut Lichtman etwa die früheren Präsidenten Ronald Reagan und Franklin Roosevelt.
Lichtman lag nur einmal falsch
Während für Trump laut Lichtman nur diese 3 Schlüsselfaktoren sprechen, kann die Demokratin Harris allerdings deutlich öfter punkten. So machte Lichtman wegen der riesigen Förderpakete der Biden-Regierung für Klimaschutz und Infrastruktur einen Haken an den Punkt „größere Änderung der Politik“. Außerdem erfüllt Harris der Analyse zufolge die Anforderung, dass sie in keinen größeren Skandal verwickelt ist.Kritiker halten Lichtman entgegen, dass seine Kriterien subjektiv seien. Doch der Historiker, der wegen seines Wohnorts im US-Bundesstaat Maryland nahe der Hauptstadt Washington auch als der „Weise von Bethesda“ bekannt ist, lässt sich nicht beirren. „Ich mache das jetzt seit 40 Jahren“, sagt er im Interview mit AFP. „Ich denke, ich habe jede denkbare Frage dazu gehört.“
Auf den Einwand, dass die von ihm identifizierten Schlüsselfaktoren subjektiv seien, entgegnet er: „Sie sind nicht subjektiv, sie sind beurteilend.“ Historiker wie er fällten „die ganze Zeit Urteile“, würden dabei aber durch Fakten begrenzt.
Inmitten des „Lärms“ politischer Stimmungsmache argumentiert Lichtman dabei, dass Präsidentschaftswahlen ganz einfach eine „Abstimmung über die Stärke und Leistung der Partei im Weißen Haus“ seien.
Damit ist seine Methode in gewisser Hinsicht das Gegenteil von der in den USA weit verbreiteten „Horse Race“-Berichterstattung, die wie bei Pferderennen den vermeintlichen Wettkampfcharakter von Politik ins Zentrum rückt. Denn in der Realität, so nennt er es, „vergessen wir praktisch alles, was ein Kandidat zu sagen hat“.
Die einzige Präsidentschaftswahl, bei der Lichtmans Rechnung seit 1984 nicht aufging, war der Sieg von George W. Bush im Jahr 2000. Allerdings kann der Historiker seine Bilanz immerhin mit dem Hinweis verteidigen, dass es sich beim Sieg des Republikaners um eine juristisch hoch komplexe Zitterpartie handelte, in die sich letztlich auch der Oberste Gerichtshof einschalten musste - und der Demokrat Al Gore damals landesweit mehr Stimmen gewann.