Sonntag, 3. Dezember 2023

Max Silbernagl: „Jeder hat ein Talent, man muss nur lang genug suchen“

Max Silbernagl (28) aus Seis schreibt, seit er 12 Jahre alt ist. Seit seiner Geburt ist er auf den Rollstuhl angewiesen. Vor kurzem hat er sein 3. Buch veröffentlicht. Zu seinem Repertoire zählen Gedichte und Kurzgeschichten, Auftritte bei Poetry Slams und mit seiner Punkband „Chaos Junkies“. Im Sonntagsgespräch mit STOL erzählt er, warum er sich traut, das zu sagen, was andere nur denken, wie wichtig Idealismus für sein Leben ist und was Südtirol für Menschen mit Beeinträchtigung noch besser machen kann.

Für Max Silbernagel ist es wichtig, das Leben nicht immer ganz so ernst zu nehmen. - Foto: © privat

Von:
Philipp Trojer
STOL: Was erwartet den Leser, wenn er Ihr 3. Buch „Der Kompass mit all seinen Tücken“ aufschlägt?
Max Silbernagl: Das neue Buch ist völlig ehrlich und erzählt Geschichten von Antihelden – viel davon kommt aus meinem Leben. Vielleicht bin ich auch ein Antiheld, ich war schon immer ein Außenseiter und musste um vieles kämpfen, was für andere selbstverständlich ist. Ich versuche klar zu sagen, was ich mir denke, ohne viele Schnörkel bringe ich die Dinge auf den Punkt und mache auch vor einem Fluchtwort nicht halt. Literaturkritik hätten wahrscheinlich keine große Freude mit mir, aber ich bin ein Autor, der die Straße aufschreibt. Ich gehe hinaus und halte die Begegnungen mit Menschen, die ich dort treffe, fest. Für mich ist es schwierig, meine eigene Arbeit zu bewerten. Leser sagen mir: Du traust dich das zu sagen, was ich mir nur denke.

STOL: Warum trauen Sie sich mehr als viele andere Menschen?
Silbernagl: Durch meine Beeinträchtigung habe ich nie so ganz in das „normale“ Leben vieler Leute hineingepasst und musste mir andere Wege suchen, um weiterzukommen. Dadurch habe ich gelernt, keinen Wert auf gewisse Konventionen zu legen. Deshalb fühle ich mich in vielen Situationen vielleicht freier und unangepasster als andere Menschen und nehme mir kein Blatt vor den Mund.

Neben „Der Kompass mit all seinen Tücken“, hat Silbernagel die Bücher „Gedankenhochsprung“ (2018) und „Prinz Harrys Hochzeit und die Cocacolisierung des Spumaimperiums“ (2021) veröffentlicht.



STOL: Sie sind ein kreativer Mensch und teilen in Form von Büchern und Songs Ihre Gedanken. Was möchten Sie damit erreichen?
Silbernagl: Mit meinem kreativen Werken möchte ich die Menschen aufrütteln und ihnen sagen: Jeder kann an seinen Träumen festhalten! Der Idealismus, bei dem man unerschütterlich an etwas glaubt, geht in unserer Gesellschaft leider etwas verloren, weil viele ihn ihrem Alltagstrott feststecken. Das Leben ist oft ernst. Arbeiten ist wichtig, jeder hat seine Verpflichtungen, denen er nachkommen muss. Da bleibt oft wenig Zeit, sich für etwas einzusetzen, das einem wichtig ist. Gleichzeitig möchte ich den Leuten sagen: Nehmt das Leben nicht zu ernst. Es soll in erster Linie Spaß und Freude machen. Überall begegnet uns heute Weltuntergangsstimmung. Ich denke mir dabei: Dann will ich zumindest „a Hetz“ bis sie untergeht.

STOL: Wie reagieren die Menschen, wenn Sie von Ihnen wachgerüttelt werden?
Silbernagl: Viele finden es toll, dass ich Bücher schreibe und freuen sich, mit einer anderen Sichtweise auf die Dinge konfrontiert zu werden. Viele Menschen vergessen viel zu schnell ihre Träume und ihre Ideale, wenn sie erstmal in diesem sich ständig drehenden Rad gefangen sind. Jeder von ins hat ein Talent, man muss nur lang genug danach suchen. Ein paar Mal ist es vorgekommen, dass nach meiner Buchpräsentation Zuhörer zu mir gekommen sind und gesagt haben: Ich hätte auch einige Gedanken, die ich eigentlich gerne aufschreiben möchte. Dass du Bücher schreibst, hat mich nun motiviert mich auch an den Schreibtisch zu setzen. Wenn ich so etwas bewirken kann, dann freut mich das sehr.

STOL: Kultur ist Ihnen wichtig, warum?
Silbernagl: Kultur ist wichtig für alle, denn ohne Kultur schauen wir nicht über unseren Gartenzaun hinaus. Die Welt ist ständig im Umbruch. Kulturschaffende versuchen die Probleme, die daraus für eine Gesellschaft entstehen, zu erfassen, wiederzugeben, Lösungsansätze zu präsentieren, aber auch die Menschen mal zum Lachen zu bringen. Dabei hat alles seine Berechtigung, weil es auch alles braucht: Das herzhafte Lachen, ein Text, dessen Inhalt man erstmal verdauen muss, Banales oder Tiefgründiges. Ohne diese Impulse der Kultur, würden wir einen Teil unserer Persönlichkeit nicht zum Ausdruck bringen können oder gar nicht erst kennenlernen, denn im Grunde steckt in jedem von uns ein Kulturmensch. Besonders nach der Pandemie, als endlich wieder die ersten Konzerte veranstaltet werden konnten, hat man gemerkt, wie sehr die Leute danach gedürstet haben.

Mit seiner Punkband „Chaos Junkies“ sorgt Max Silbernagel regelmäßig für ordentlich lärm. - Foto: © Chaos Junkies



STOL: Sie nehmen sich kein Blatt vor den Mund, besonders wenn es um die Themen von Menschen mit Beeinträchtigung geht. In Ihrem Buch findet sich das Kapitel „Krüppel aller Länder vereinigt euch“. Wie ist das Leben für Menschen mit Beeinträchtigung in Südtirol?
Silbernagl: Als Mensch mit Beeinträchtigung – ich spreche nun von Gehbeeinträchtigung, weil ich selbst davon betroffen bin – lernst du fast jeden Menschen in Südtirol kennen, der auch eine Gehbeeinträchtigung hat, weil alle an den selben Orten ihre Therapie machen. So entsteht von Klein auf eine enge Vernetzung. Das Inklusionsmodell in Südtirols Schulen ist wirklich vorbildlich. Im Gegensatz dazu gibt es in Österreich noch immer Sonderschulen für Menschen mit Beeinträchtigung, was ich nicht verstehen kann. Für die Zeit nach der Schule könnte sich Südtirol allerdings einiges von den Nachbarn in Innsbruck, wo ich derzeit lebe und studiere, abschauen. Was ich in Innsbruck oft vermisse, ist die lockere Art der Südtiroler und ihre Handschlagqualität. Oft wird über Südtirol geschimpft, aber mir ist bewusst, was für eine schöne Heimat wir haben. Oft habe ich Heimweh nach Südtirol.

STOL: Was wäre das?
Silbernagl: In Südtirol hatte ich als Mensch mit Beeinträchtigung nach der Schule 3 Möglichkeiten: Entweder ich bleibe bei meinen Eltern, ich komme in einer geschützten Werkstatt unter oder ich organisiere mir auf eigene Faust eine Assistenz. Das macht ein selbstbestimmtes Leben schwierig. Hier in Innsbruck ist es anders. Ich kann ganz klar sagen: Ich möchte selbstbestimmt leben, gebt mir dazu eine Assistenz. Dabei werden dann sogar Assistenzen ausgesucht, die zu mir und dem, was ich in meinem Leben machen möchte, passen. Das gibt mir ein großes Maß an Freiheit und Gestaltungsspielraum, den ich mir in Südtirol mühsam erkämpfen müsste. Hier besteht noch großer Aufholbedarf. Auch deshalb habe ich das Kapitel „Krüppel aller Länder“ vereinigt euch geschrieben. Ich hoffe wirklich, dass sich die Politik mit unserer Situation auseinandersetzt. Ein funktionierendes Beispiel gäbe es, wie man Menschen mit Beeinträchtigung ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen kann – man muss nur einmal über den Brenner schauen.

STOL: Kümmert sich die Politik ausreichend um die Belange von Menschen mit Beeinträchtigung?
Silbernagl: Die Politik in Südtirol macht schon vieles für Menschen mit Beeinträchtigung, aber wie bei vielen anderen Themen auch geht es natürlich auch immer noch besser. Mir ist es aber auch wichtig, die Verantwortung nicht allein bei der Politik zu lassen. Besonders am Anfang ist es wichtig, dass die Betroffenen selbst und private Bürger etwas auf die Beine stellen und vorangehen. Wenn man laut ist und auf sich aufmerksam macht, dann muss die Politik irgendwann notgedrungen reagieren. Ich will die öffentliche Hand nicht aus der Verantwortung nehmen – diese hat sie unbestritten –, aber man muss mit konkreten Vorschlägen und Entschlossenheit auf sich und die eigene Sache aufmerksam machen. Dann passiert auch etwas. Hier geht es wieder um den Idealismus: Wer ein Ideal mit Überzeugung verfolgt, kann viel erreichen.

STOL: Sie haben Ihr Leben selbst in die Hand genommen, trotz aller Schwierigkeiten. Wie ist Ihnen das gelungen?
Silbernagl: Ich konnte mich entscheiden, ob ich bei meinen Eltern bleibe oder ob ich in eine Werkstatt gehe. Beide Optionen waren für mich aber zu wenig. Deshalb habe ich versucht, meinen eigenen Weg zu finden. Manchmal denke ich mir, ich hätte mir das Leben auch viel einfacher machen können, denn oft habe ich bewusst den schwierigeren Weg eingeschlagen. Dadurch habe ich aber viel erlebt und das ist mir wichtig. Wenn meine Zeit irgendwann vorbei ist, dann will ich etwas zu erzählen haben.

STOL: Ihr Buch heißt „Der Kompass mit all seinen Tücken“, was ist der Kompass in Ihrem Leben?
Silbernagl: Ich habe diesen Titel gewählt, weil während des Schreibprozesses meine ganz persönliche Kompassnadel nicht mehr richtig ausgerichtet war. Es war eine schwierige Zeit durch Pandemie und Isolation, aber auch für mich auf persönlicher Ebene. Deshalb musste mein Kompass repariert werden. Gelungen ist mir das auch durch mein Schreiben und meine Musik. Ich möchte mein Leben so frei wie möglich gestalten können und meinen Träumen und Idealen treu bleiben. Einen großes Lebensziel von mir ist es, eine eigene Familie zu gründen. Dass meine Kinder dann ihren Papi anfeuern können, während er auf der Bühne Punksongs singt oder im besten Fall gleich mit mir auf der Bühne rocken.

Zur Person
Max Silbernagl, Jahrgang 1995, ist in Seis aufgewachsen und seit seiner Geburt an den Rollstuhl gebunden. Nach der Matura an der Fachoberschule für Wirtschaft und Tourismus in Bozen, studierte er seit 2020 Geschichtswissenschaften an der Universität Innsbruck. Max Silbernagl lebt zwischen Seis und Innsbruck und schreibt seit er 12 Jahre alt ist. Zu seinem Repertoire zählen vor allem Gedichte und Kurzgeschichten, Auftritte bei Poetry Slams und mit seiner Punkband „CHAOS JUNKIES“sowie Artikel, Interviews und Rezensionen für verschiedene Magazine und Zeitungen. Außerdem hat er 3 Bücher veröffentlicht: „Gedankenhochsprung“ (2018), „Prinz Harrys Hochzeit und die Cocacolisierung des Spumaimperiums“ (2021) und „Der Kompass mit all seinen Tücken“ (2023).

Auszug aus „Der Kompass mit all seinen Tücken“

Krüppel aller Länder vereinigt euch!
Eine Aufforderung: Ich, ein Mann, 27 Jahre jung, mit einer Gehbeeinträchtigung, habe es satt, dass ich immer nachgeben muss und zufrieden sein soll, nur weil ein selbstständiges, selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Beeinträchtigung keine einfache Lösung ist und sich die Sesselfurzer lieber mit kurzfristigen Problemen und kurzfristigen Lösungen auseinandersetzen, da sie diese dann einfacher den Leuten vor den Wahlen auf die Nase binden können. Sie haben es erkannt, heute bin ich geladen. Ich schreibe dieses Plädoyer aus dem einfachen Grund, weil ich mein Leben lang mit Assistenz und meiner Beeinträchtigung konfrontiert bin und es meiner Meinung nach in vielen Bereichen zu diesem Thema überall auf der Welt mehr Wut, mehr Entschlossenheit, mehr Einfühlungsvermögen und mehr Selbstbewusstsein von Seiten der Betroffenen, der Entscheidungsträger und der Gesellschaft im allgemeinen braucht, um Barrierefreiheit endlich einen Begriff vergangener Tage werden zu lassen. Beeinträchtigung und Assistenz sind seit Jahren ein heißes Eisen. Ach, was sage ich, seit Jahrzehnten reden Wissenschaftler, Pädagogen und Betroffene darüber und wiederholen wieder und wieder die gleichen Forderungen und ausgelutschten Phrasen. Bekommen einmal kurz Aufmerksamkeit, freuen sich, einmal die Möglichkeit zu bekommen, vor „großem“ Publikum zu sprechen und verstummen dann wieder mehr oder minder, da sie doch zufrieden sein sollen – sie kriegen doch Unterstützung. Ich habe es satt immer im gleichen Hamsterrad mitzulaufen, denn langsam nimmt es mir die Luft. Deshalb Krüppel aller Länder, vereinigt euch, gebt euch nicht zufrieden, seid wachsam, seid wütend, seid gesprächsbereit, seid selbstbewusst und schließt euch, verdammt noch mal, zusammen. 66 Sie gestalten die Welt für Menschen mit Beeinträchtigung absichtlich nur schrittweise, da sie sie so besser klein halten können. Das ist ihre Taktik und diese gilt es mit aller Kraft zu bekämpfen. Diese immer gleichen Floskeln wieder und wieder wiederholen, um darüber hinwegzutäuschen, dass 30 Jahre nichts Bemerkenswertes in diese Richtung unternommen wurde. Wir werden laut und wir werden nicht aufgeben und mit vielen stichfesten Argumenten dafür kämpfen, dass uns die gleichen Chancen zuteil werden, wie es eigentlich normal sein sollte und sein muss. Fordern wir ein, was uns zusteht. Ich sage 1, 2, 3 auf die Barrikaden. Für ein selbstbestimmtes und verständnisvolles Miteinander. Euer Max Silbernagl


Wer Max Silbernagl live bei einer Lesung erleben möchte, hat dazu am 18. und 19. Jänner in Innsbruck bzw. Lana die Chance dazu. Seine Bücher sind online oder bei ihm persönlich erhältlich.


pho

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