Sonntag, 19. November 2023

Jugendkriminalität: „Härtere Strafen bringen nichts“

Jährlich werden in Südtirol rund 500 Straftaten angezeigt, die Jugendliche begangen haben. Dabei werde kein Kind freiwillig kriminell, sagt Florian Pallua vom Forum Prävention. Er selbst hat schon öfters mit „kriminellen“ Jugendlichen zu tun gehabt und weiß, dass auch sie nur Menschen mit Bedürfnissen und Träumen sind. Er zieht deshalb die Politik in die Verantwortung.

Jugendkriminalität wird auch in Südtirol zunehmend zum Problem. - Foto: © Shutterstock / shutterstock

Von:
Matteo Tomada
STOL: Herr Pallua, 500 Straftaten werden in Südtirol jährlich von Jugendlichen begangen – ganz schön viele, finden Sie nicht?
Florian Pallua: Ja, und ich möchte betonen, dass ich das überhaupt nicht gutheiße oder schönreden will. Trotzdem muss man bei dem Thema aufpassen, dass man einen kühlen Kopf bewahrt und nicht polarisiert. Ich beschäftige mich mit den Ursachen von Jugendkriminalität und kenne auch einige junge Menschen, die sich strafbar gemacht haben, und kann sagen, dass diese Kids oft gar keine andere Wahl hatten.


Ein Großteil der Jugendlichen, die straffällig werden, kommen aus einem schwierigen Umfeld und haben meistens selbst schon Gewalt erfahren.
Florian Pallua



STOL: Sie wollen damit sagen, dass diese Jugendlichen eine kriminelle Ader haben?
Pallua: Nein. Ein Großteil der Jugendlichen, die straffällig werden, kommen aus einem schwierigen Umfeld und haben meistens selbst schon Gewalt erfahren. Oft haben sie eine andere Kultur, werden deshalb ausgegrenzt und bekommen keine Anerkennung. Der Schritt in die Kriminalität ist da viel leichter als für Südtiroler Jugendliche, die meistens in einem viel geschützteren Umfeld aufwachsen. Aber es gibt auch einen globalen Grund, wieso Jugendliche kriminell werden.


Florian Pallua ist Koordinator der Fachstelle Jugend im Forum Prävention. - Foto: © manuelatessaro.it




STOL: Der wäre?
Pallua: Es geht dabei um die Frage, wie gerecht die Welt für Jugendliche ist. Man muss bedenken, dass 80 Prozent der Immobilien weltweit 10 Prozent der reichsten Menschen gehören und dass die Bildungs- und Berufschancen nicht für alle gleich sind. Der Mix aus Biografie und Umwelt bringt viele Erklärungen, wieso es bei Jugendlichen zu Verhaltensauffälligkeiten kommt.


Bildungs- und Berufschancen sind nicht für alle gleich – ein Grund für zunehmende Kriminalität. - Foto: © dolo




STOL: Und weil die Welt nicht gerecht ist, wird man kriminell?
Pallua: Die Ungerechtigkeit ist ein Grund, der zu Auffälligkeiten führen kann. Für uns Experten ist es wichtig, die Hintergründe zu verstehen, um den Betroffenen zu helfen. Wichtig ist dabei der Blick auf die Bedürfnisse. Bei allen verhaltensauffälligen Jugendlichen, mit denen ich zu tun hatte, waren ihre psychologischen Bedürfnisse nicht erfüllt.

STOL: Was für Bedürfnisse sind das?
Pallua: Ein sehr wichtiges Bedürfnis, das Jugendliche haben, ist Zugehörigkeit. Sie wollen irgendwo dazugehören. Kriminelle Jugendliche sind meistens allein, sind in keinem Verein und haben meistens schlechte Erfahrungen in der Schule. Häufig rutschen diese dann in die Kriminalität, wo sie „schlechte“ Freunde bekommen. Lieber das als gar keine Freunde.


Jugendliche brauchen Anerkennung.
Florian Pallua



STOL: Gibt es noch andere Bedürfnisse, die befriedigt werden müssen?
Pallua: Jugendliche brauchen Anerkennung. Lob ist sehr wichtig in der Entwicklung junger Menschen. Wenn sie diese aber nie bekommen, kann es sein, dass sie in die Kriminalität abrutschen. Das passiert übrigens auch Kindern von reichen Familien, weil Eltern sehr hohe Erwartungen an sie haben und deswegen selten Lob bekommen. Wenn man hingegen ein guter Drogendealer ist, bekommt man viel Lob. Man ist in der Drogenszene wer. Der Ausstieg wird in solchen Fällen umso schwieriger.


„Ein guter Drogendealer bekommt Anerkennung“, sagt Pallua. - Foto: © Shutterstock




STOL: Zugehörigkeit und Anerkennung also, die Schlüssel zur guten Erziehung?
Pallua: Nicht nur. Ein weiteres Grundbedürfnis der Jugendlichen ist, dass sie gerne ihr Schicksal selbst bestimmen. Jeder will seine Entscheidungen selber treffen. Wenn das nicht der Fall ist, gibt es 2 Möglichkeiten: Entweder sie ziehen sich zurück und werden passiv, oder sie werden „sierig“ und vielleicht sogar kriminell. Auch die sozialen Medien spielen heutzutage eine wichtige Rolle: Sie prägen Träume und können das Selbstwertgefühl junger Menschen beeinflussen.


Die Politik sollte den kriminellen Jugendlichen ein Gegenangebot machen, das besser ist als ihr kriminelles Leben.
Florian Pallua



STOL: Wie kann man Jugendkriminalität reduzieren?
Pallua: Es hat keinen Sinn, härtere Strafen einzuführen, wie manche fordern. Wenn das System so bleibt, muss man schauen, dass man betroffene Jugendliche irgendwie repariert – die klassische Wiedergutmachungsarbeit. Viel effektiver wäre es aber, das System zu verändern.


Die Politik sei gefordert, um Jugendkriminalität in den Griff zu bekommen, sagt Pallua. - Foto: © Shutterstock / shutterstock




STOL: Und was sollte man konkret tun?
Pallua: Ich will keine Utopie herbeiführen. Man sollte sich aber das soziale Gefüge einiger Familien genauer anschauen: Wie ist der Wohnbau? Wie steht die Familie finanziell da? Hat sie einen Anschluss zur Gesellschaft? Die Politik ist hier gefordert. Es braucht nämlich Personen mit Macht, denen die Angelegenheit wirklich wichtig ist, um das Problem der Jugendkriminalität zu lösen.

STOL: Was soll die Politik machen?
Pallua: Die Frage, mit der sie sich beschäftigen sollte, ist, wie können wir eine Kultur schaffen, die jeden als Menschen sieht? Die Politik sollte den kriminellen Jugendlichen ein Gegenangebot machen, das besser ist als ihr kriminelles Leben. Nur dann gibt es Chancen auf Besserung. Außerdem sollte die Politik zeigen, dass sie sich ernsthaft für Jugendliche einsetzt. Es gibt Städte, die gezeigt haben, wie das geht.


Niemand macht sich gerne straffällig.
Florian Pallua



STOL: Wie geht das?
Pallua: Zum Beispiel wurden junge Leute eingeladen zu einer Sitzung, um Probleme zu besprechen und Lösungen zu finden. Andere Städte, die Probleme mit Bandenkriminalität hatten, haben zum Beispiel kostenlose Reisen für Bandenmitglieder organisiert, wenn 2 verfeindete Mitglieder sich dafür zusammen anmeldeten. Es funktioniert aber nur, wenn die Verantwortlichen wirklich gewillt sind, die Situation zu verbessern, und das sollten sie sein: Niemand macht sich nämlich gerne straffällig.

teo

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