Sonntag, 15. Oktober 2023

Bischof Ivo geht wählen: „Ist eine Christenpflicht“

In einer Woche sind Landtagswahlen. Bischof Ivo Muser hat seinen Wohnsitz in Bozen und ist aufgerufen, dort seine Stimme abzugeben. Doch wie steht er als Oberhaupt der katholischen Kirche in Südtirol zu Wahlen, generell zur Politik? Was sagt er über die zunehmend rauen Töne im Wahlkampf, über die in mehreren Ländern bestehende Tendenz zum Rechtsruck und über das heiße Eisen Migration?

Bischof Ivo Muser ist seit 2011 Bischof der Diözese Bozen-Brixen. - Foto: © fm

von Edith Runer


STOL: Herr Bischof, gehen Sie zu den Landtagswahlen?
Ivo Muser: Ja, und zwar mit Überzeugung. Wählen ist ein Recht, aber noch mehr eine Pflicht. Es ist ein konkretes Bekenntnis zur Gemeinschaft, zu der ich mich zähle. Ich halte Politik für wichtig und möchte durch meine Wahl auch zur Gestaltung dieser Gemeinschaft beitragen.

STOL: Ist Glaube also etwas Politisches, das Wählen eine Christenpflicht?
Muser: Ich möchte es so erklären: Das Evangelium ist von seinem Wesen her politisch, es hält sich nicht heraus, es tritt für das Verbindende, das Gemeinwohl ein. Deswegen: Ja, auch wir Christen sollten im Sinn des Evangeliums fürs Gemeinwohl eintreten, wir sollten Stellung beziehen. Das setzt voraus, sich für die Gemeinschaft zu interessieren. Zu sagen, Politik geht mich nichts an, ist nicht mit dem Evangelium vereinbar.

STOL: Haben Sie Ihre Wahlentscheidung schon gefällt?
Muser: Ja. Wie gesagt, ich interessiere mich für die Politik, beobachte und nehme Anteil an dem, was im Land passiert. Aus diesen Beobachtungen heraus habe ich meine Entscheidung bereits getroffen.

STOL: Der Ton in der Politik ist rauer geworden, auch in den Wahlkämpfen. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?
Muser: Ich würde sagen, man spürt eine zunehmende Polarisierung, die Sprache ist roher geworden. Aber das trifft nicht nur auf die Politik und den Wahlkampf zu, sondern auf unsere gesamte Gesellschaft. Es scheint, als würde uns im Umgang miteinander die natürliche Scham zunehmend abhanden kommen, auch eine gewisse Ehrfurcht und das notwendige Taktgefühl. Immer öfter wird in der Wortwahl eine Grenze überschritten. Das sollte uns sehr zu denken geben.


Zu sagen, Politik geht mich nichts an, ist nicht mit dem Evangelium vereinbar.
Bischof Ivo Muser



STOL: Wahlkampf wird nicht nur, aber vor allem mit Worten gemacht. Wo liegt die Grenze des Annehmbaren?
Muser: Sprache sagt viel über den Menschen aus, der sie benutzt. Jemand kann in seiner Wortwahl klar, auch pointiert und dabei dennoch respektvoll sein. Aber wenn man sich öffentlich mit Worten regelrecht befetzt und beleidigt, dann ist für mich diese Grenze überschritten. Bis vor einiger Zeit passierte diese Grenzüberschreitung noch fast ausschließlich in den neuen Medien, wo die Menschen oft anonym und damit noch hemmungsloser sind. Mittlerweile ist verbale Gewalt auch im realen Leben angekommen. Was manchmal gegenüber Politikern geäußert wird, lässt jeglichen Respekt vermissen. Kontroverse Diskussionen sind durchaus wichtig, aber niemals darf das Gegenüber dabei diffamiert werden.

STOL: In vielen Ländern wird die Politik derzeit von einem Rechtsruck geprägt. Sind wir diesem Phänomen ausgeliefert?
Muser: Der Rechtsruck entspricht der sich ausbreitenden Tendenz hin zu Subjektivismus, Individualismus, zu einem Fordern, das ganz auf die eigenen Bedürfnisse konzentriert ist. Dadurch entstehen Feindbilder, man entwickelt eine Art Sündenbocktheorie: Ich lenke vom Eigenen ab und gebe anderen die Schuld, entwickle irrationale Feindbilder. Leider funktioniert die Sündenbocktheorie sehr gut. Das zeigen viele Beispiele in der Geschichte der Menschheit. Denken wir an den Nationalsozialismus und Faschismus. Ausgeliefert sind wir diesem Phänomen aber keinesfalls. Es gilt, ganz klar dagegen Stellung zu beziehen.


Wenn man sich öffentlich mit Worten regelrecht befetzt und beleidigt, dann ist für mich diese Grenze überschritten.
Bischof Ivo Muser



STOL: Als Einzelner fühlt man sich da oft machtlos.
Muser: Klar, dazu braucht es auch Zivilcourage. Aber ich nenne als Beispiel Josef Mayr Nusser (er verweigerte den SS-Eid auf Hitler und musste dafür sterben, Anm. d. Red.). Er ist nicht fraglos mit der Masse mitgeschwommen, sondern hat sich für die politische Entwicklung interessiert und deshalb mehr über den Nationalsozialismus gewusst als andere. Mein Appell lautet daher, dass sich die Menschen interessieren sollten – für die Politik, für die Mitmenschen, für die Gesellschaft. Es ist wichtig, sich zu bilden, weiterzubilden und sich eine Meinung zu bilden. Und dann braucht es Dialog. Die Fähigkeit zum respektvollen Dialog muss mehr gefördert werden. Je mehr wir als Gesellschaft imstande sind, miteinander in Dialog zu treten, desto weniger Chancen hat extremes Denken.

STOL: Auch das Thema Migration beschäftigt die Politik aktuell sehr stark. Kann man den enorm hohen Flüchtlingszahlen noch menschlich begegnen, also ohne „Zäune“ aufzustellen?
Muser: Wie denn sonst, wenn nicht menschlich? Selbstverständlich ist die Migration eine eminent große gesellschaftliche Herausforderung, die uns noch über Jahrzehnte beschäftigen wird. Ob es die Umwelt- oder die Friedensproblematik, der Klimawandel oder einfach die Globalisierung ist – die Menschen werden künftig wohl noch mehr aus ihren angestammten Gebieten auswandern oder auswandern müssen.

Wir denken oft nicht daran, dass wir, dass die reichen Länder mit Schuld an der Armut in anderen Ländern tragen, weil wir sie ausgebeutet haben oder es immer noch tun. Zäune aufbauen, Grenzen schließen, das sind immer Zeichen von Angst: Man möchte diese Menschen nicht haben. Aber so funktioniert das nicht. Abgesehen davon, dass es unrealistisch ist, sich nach außen hin abzuschotten, dürfen wir die Herausforderung der Migration einfach nicht ausblenden. Wir müssen uns ihr stellen, und zwar menschlich stellen. Das steht nicht im Gegensatz zu politischen Vorgaben und Regeln. Es geht aber in erster Linie um Menschen und ihre Bedürfnisse.


Zäune aufbauen, Grenzen schließen, das sind immer Zeichen von Angst: Man möchte diese Menschen nicht haben. Aber so funktioniert das nicht.
Bischof Ivo Muser



STOL: Trotzdem: Sind Ängste nicht angebracht?
Muser: Ich verstehe, dass diese Herausforderung auch Angst macht. Ich glaube, jeder spürt gewisse Ängste, wenn sich eine Veränderung anbahnt. In erster Linie scheint es bei der Migration aber um die Angst zu gehen, etwas vom Eigenen zu verlieren oder mit anderen teilen zu müssen. Wir möchten unseren Lebensstandard absichern, deshalb haben wir Angst vor jenen, die diesen Standard zu verändern drohen. Das Gefährliche ist, dass unsere Verunsicherung von gewissen Kräften ausgenutzt wird. Und da wären wir wieder bei den Feindbildern.

STOL: Wir brauchen aber auch Lösungen für diese Herausforderungen …
Muser: Wohl niemand hat jetzt auf der Stelle die perfekte Lösung parat, auch die Politik kann sie nicht haben, selbst wenn das mitunter versprochen wird. Aber die Aufgabe der Politik ist es eben nicht, Ängste zu verbreiten und dadurch Feindbilder zu schaffen, sondern Lösungsansätze zu entwickeln. Das passiert im Dialog und in der Diskussion, oft auch im Handeln. In dem Moment, in dem ich mich für das Schicksal eines Migranten interessiere, ändert sich meine Perspektive. Ich merke, dass er eigentlich dasselbe will wie ich: ein gutes Leben. Damit haben wir etwas gemeinsam, und darauf sollten wir bauen. Das vermisse ich zum Beispiel auch in Wahlkämpfen.


In dem Moment, in dem ich mich für das Schicksal eines Migranten interessiere, ändert sich meine Perspektive.
Bischof Ivo Muser



STOL: Wie meinen Sie das?
Muser: Dass Wahlkämpfe eher auf das Trennende ausgerichtet sind statt auf das Einende. Einend bedeutet nicht, dass Probleme nicht an- und Meinungen nicht ausgesprochen werden dürfen. Aber wenn ständig nur auf das gezeigt wird, was nicht funktioniert, schaukelt sich das auf, es wird eine Unzufriedenheit erzeugt, die nicht der Realität entspricht. Ich glaube einfach, es braucht wieder mehr Verhältnismäßigkeit in unseren Anschauungen, Wünschen und Forderungen. Es braucht mehr Zufriedenheit und Dankbarkeit – auf allen Ebenen des persönlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Lebens. Ohne Bereitschaft zum Verzicht haben wir keine gute Zukunft vor uns. Weniger Ich und mehr Wir. Und nie: Zuerst wir und dann die anderen.

er

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