Donnerstag, 30. November 2023

Henry Alfred Kissinger ist tot – Ein Portrait

Nachruf: Mit 100 Jahren ist Henry A.Kissinger am 29. November gestorben. Er war der Mann der großen Politik, dem bei der Verteidigung amerikanischer Interessen – fast – alle Mittel recht waren.

Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger, eine Schlüsselfigur der amerikanischen Diplomatie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, starb am 29. November 2023 im Alter von 100 Jahren. - Foto: © APA/afp / JOEL SAGET

Von Rolf Steininger

Henry A. Kissinger wurde als Heinz Alfred Kissinger 1923 im mittelfränkischen Fürth geboren. Seine jüdische Familie wurde 1938 von den Nazis vertrieben. In den USA erhielt Kissinger 1943mit dem Militärdienst die amerikanische Staatsbürgerschaft. 1945 kam er als GI zurück nach Deutschland, wo er 2 Jahre in der Militärregierung tätig war. Es ging darum, Kriegsverbrechen aufzuklären, Nazis aufzuspüren und die Entnazifizierung voranzutreiben.



Rolf Steininger - Foto: © Thomas Böhm



Nach seiner Rückkehr in die USA studierte er in Harvard mit einer brillanten wissenschaftlichen Karriere dort, wo er schon bald zu dem Deutschlandexperten wurde, dessen Rat in Washington gefragt war. Während der Berlinkrise 1961 wurde er von Kennedy als Berater ins Team des Weißen Hauses geholt. Im State Department blieb er „der Deutsche“ mit dem deutschen Akzent.



2015: Henry Kissinger und seine Frau Nancy - Foto: © APA/afp / MOLLY RILEY

Kissinger und die Deutschen

Kissinger wurde später einmal gefragt, wie er 1945, als er als amerikanischer Soldat nach Deutschland zurückkehrte, auf die Situation reagiert habe (13 seiner engen Verwandten hatten den Holocaust nicht überlebt). Seine Haltung sei die gewesen, „dass ungeachtet des Unrechts, das die Deutschen uns Juden angetan hatten, wir nach dem Grundsatz verfahren müssten, dass nicht das Volk als Ganzes dafür verantwortlich gemacht werden dürfte und dass Straftäter zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Als ich dort war, galt mein Interesse der Versöhnung zwischen Deutschland und den USA. Und dies ist stets eines der dominierenden Themen in meinem Leben geblieben.“

Henry Kissinger und die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel - Foto: © ANSA / GERO BRELOER / POOL


Das ändert allerdings nichts daran, dass Kissinger den Deutschen und vor allen Dingen deutschen Politikern stets mit einem gehörigen Maß an Misstrauen entgegentrat. Er begründete dies zum Teil mit der unsicheren psychologischen Position der Bundesrepublik, die nach Krieg und mit der Teilung nach einer politischen Aufgabe suche. In seinen Erinnerungen spricht er von einem Gefühl der Unsicherheit ihrer führenden Politiker und dem unerfüllten nationalen Ziel dieses Staates. Er warnte ständig davor, dass die Bundesrepublik einen Weg gehen könnte, der möglicherweise für die USA zum Verhängnis werde.

Realpolitiker: Nixon und Kissinger (r.) im Oval Office im Weißen Haus.<?ZA?>

Kissinger und Nixon

Mit Richard Nixon zog Kissinger 1969 ins Weiße Haus ein und wurde der Sicherheitsberater des Präsidenten. Er residierte in einem Untergeschoss des Weißen Hauses. So wie Nixon die Außenpolitik an sich zog – an der State Department-Bürokratie vorbei –, so versuchte Kissinger, alle Fäden wichtiger außenpolitischer Operationen in seinen Händen zu bündeln. Dazu gehörten konspirative Reisen und geheime back channels am eigenen Außenministerium vorbei. Das entsprach weniger einem Hang zu verdecktem Handeln als der Überzeugung, anders strategische weltpolitische Veränderungen nicht bewirken zu können.


Kissinger war der kongeniale Untergebene, Partner und Mittäter Nixons. Intelligenter als der Präsident, dabei genauso verschlagen, rücksichtslos und skrupellos, wenn es um die Sache und den „Platz in der Geschichte“ ging. Menschenleben spielten bei beiden keine große Rolle.



Kissinger wurde im September 1973 endlich auch Außenminister, und zwar Außenminister einer Supermacht, was er dann in seltener Offenheit vor allen Dingen auch seine europäischen Partner spüren ließ. Nur der sowjetische und israelische Außenminister bekamen relativ schnell einen Termin bei ihm.
Mit ihm sind direkt oder indirekt verbunden:


Le Duc Tho

Der Vietnamkrieg


Nixon hatte die Wahl 1968 mit dem Versprechen gewonnen, den Vietnamkrieg zu beenden. Kissinger beauftragte den nationalen Sicherheitsrat, Möglichkeiten für einen „brutalen, entscheidenden Schlag“ gegen Nordvietnam zu überprüfen. Das schloss auch den Einsatz von Atomwaffen ein, um die Zufahrtswege nach China zu blockieren. Kissinger: „Ich weigere mich zu glauben, dass eine viertklassige Macht wie Nordvietnam nicht an irgendeinem Punkt aufgeben muss.“ Da Nordvietnam nicht aufgab, lautete die neue Doktrin jetzt: „Um den Krieg zu gewinnen, muss man ihn ausweiten.“ Und zwar in das neutrale Kambodscha, wo Nordvietnam Basen errichtet hatte. Das geschah am 30. April 1970. Das Land wurde dauerhaft destabilisiert und führte letztlich zum „Steinzeitkommunismus“ mit Millionen Toten in Kambodscha. Kissinger hielt den Angriff auch noch im Jahr 2023 für „legitim“ .


1973: Kissinger und Mao Zedong - Foto: © APA/afp / -


Kissinger liebte konspirative Aktionen. So führte er auch Seit Ende 1969 Geheimverhandlungen mit den Nordvietnamesen in Paris, obwohl er sie verachtete. Sie waren für ihn lediglich dreckiger Mist, „nothing but filthy shit“, die sich letztlich dennoch durchsetzten: Abzug der Amerikaner und weiter kommunistische Truppen in Südvietnam. Am 23 Januar 1973 paraphierten Kissinger und der Nordvietnamese Le Duc Tho in Paris das „Abkommen über die Beendigung des Krieges und die Wiederherstellung des Friedens in Vietnam“ – gegen den Willen Saigons. Auf die Frage, wie lange Südvietnam den Kommunisten widerstehen würde, meinte er intern – und zynisch – möglicherweise anderthalb Jahre.


Zum ganz großen Kino gehörte der Besuch Nixons in Peking im Februar 1972 – vorbereitet in mehreren Geheimtrips Kissingers nach Peking. Ähnlich auch die Gespräche mit den Sowjets über den SALT I-Vertrag zur Begrenzung der strategischen Rüstung.


1975. Gerald R. Ford und Kissinger - Foto: © APA/afp / -

Brandts Ostpolitik


Nixon und Kissinger und die linksliberale Koalition in Bonn sind ein eigenes Kapitel. Beide konnten Willy Brandt und dessen Berater Egon Bahr persönlich nicht ausstehen. Für Kissinger war Brandts Ostpolitik ein einziges „Desaster“, wie er intern mehrfach deutlich machte. Die von ihm in seinen Erinnerungen wortgewaltig gegebene Begründung der angeblichen Gefährlichkeit der Ostpolitik lässt sich aber vielleicht auf einen Satz Kissingers zu Staatssekretär Paul Frank Anfang 1970 reduzieren: „Eines will ich Ihnen sagen, wenn schon Entspannungspolitik mit der Sowjetunion gemacht werden soll, dann machen wir sie!“


Madaline Albright und Kissinger - Foto: © APA/afp / TIM SLOAN

Chile


Am 27. Juni 1970 stellte Kissinger in einer Sitzung des Geheimdienstes fest: „Ich sehe nicht ein, dass wir nur rumstehen und zuschauen, wie ein Land kommunistisch wird, nur weil ein Volk unverantwortlich handelt.“ Die Wahl des erklärten Marxisten Salvador Allende zum Präsidenten Chiles sollte verhindert werden. Was nicht gelang. Nixon war außer sich.

Kissinger in seinen „Memoiren“:
„Die Wahl Allendes berührte unsere nationalen Interessen in Südamerika. Das Entstehen eines zweiten kommunistischen Staats in der westlichen Hemisphäre konnten wir nicht ohne weiteres hinnehmen, da wir davon überzeugt waren, dass Chile demnächst eine gegen die Vereinigten Staaten gerichtete Politik betreiben, die Solidarität in der westlichen Hemisphäre gefährden, gemeinsame Sache mit Kuba machen und früher oder später enge Beziehungen mit der Sowjetunion anknüpfen würde.“ Das musste verhindert werden. Und wurde verhindert. Chiles verfassungstreuer Generalstabschef Rene Schneider wurde ermordet, am 13. September 1973 putschte die Armee unter General Pinochet, Allende beging Selbstmord.



Kissinger später: Die US-Regierung habe absolut nichts damit zu tun gehabt.Dann wurde ein Telefonat bekannnt, das Nixon und Kissinger am 16. September, fünf Tage nach dem Putsch, geführt hatten. Kissinger: „Wir waren nicht beteiligt.“ Aber: „Ich meine, wir haben ihnen [den Putschisten] geholfen – wir haben die größtmöglichen Voraussetzungen [für den Putsch] geschaffen.“

Yom Kippur-Krieg


Am 5. Oktober 1973 griffen ägyptische und syrische Truppen gleichzeitig Israel an. Im Gefühl des Sieges von 1967 hatte Israel seine Sicherheit vernachlässigt und wurde vollkommen überrascht. Das Land stand kurzzeitig am Abgrund. Yom Kippur wurde Kissingers große Bühne im Nahen Osten. Nachdem Ägypten 400 israelische Panzer zerstört hatten, versicherte er dem israelischen Botschafter in Washington: „Setzt ein, was Ihr habt. Wir werden alles ersetzen.“


Kissinger: „Die Kämpfe müssen weitergehen, damit die Araber und nicht wir um einen Waffenstillstand bitten.“ Das taten dann Ägyptens Sadat und Sowjetführer Breschnew. Kissinger intern: „Wir haben es nicht so eilig wie die Sowjets.“


2012: Shimon Peres und Kissinger - Foto: © ANSA / ABIR SULTAN



Der Waffenstillstand wurde wenig später gebrochen. Kissinger hatte Israels Golda Meir versichert: „Wenn die israelischen Truppen in der Nacht agieren, während ich im Flugzeug sitze, wird es keinen lauten Protest aus Washington geben.“ Breschnew sah das anders: „Kissinger hat uns zum Narren gehalten und einen Deal mit Tel Aviv ausgehandelt.“ Er sprach von „Verrat“ – und drohte mit militärischen Eingreifen. Während Nixon schlief – er war betrunken – , ordnete Kissinger für die amerikanischen Nuklearstreitkräfte weltweit die Alarmstufe DEFCON 3 an. Am Ende gab es den Waffenstillstand und das, was Kissinger in seinen Erinnerungen so formuliert: „Amerika war zum entscheidenden Faktor in der Nahostpolitik geworden.“

Indonesien, Argentinien, Kuba


Nixon trat im August 1974 zurück. Unter seinem Nachfolger Ford blieb Kissinger Außenminister. Zum Missfallen seiner konservativen Gegner in Washington setzte er zwar seine Detente-Politik mit Blick auf die Sowjetunion fort, gleichzeitig unterstützte er aber weiter Aktionen, bei denen es vordergründig darum ging, ein zweites Kuba zu verhindern. So etwa 1975 in Indonesien, als Präsident Suharto Osttimor überfiel – mit 200.000 Toten, oder 1976 die Militärdiktatur in Argentinien. Für jenes Jahr war auch der finale Schritt gegen Fidel Castro geplant: die Invasion Kubas. Die hatte Kennedy zwar 1962 ausgeschlossen, aber als Castro 1975 60.000 Soldaten in den Bürgerkrieg nach Angola und Mosambik schickte, meinte Kissinger: „Wir können nicht dulden, dass eine kubanische Armee quer durch Afrika marschiert.“ Und zu Präsident Ford: „Ich denke, wir müssen Castro erledigen.“ Ford stimmte zu („I agree.“). Dazu kam es nicht. Der neue Präsident Jimmy Carter stoppte die Invasionspläne.


Joseph Biden und Kissinger - Foto: © ANSA / MSC / KAI MOERK / HANDOUT



Mit Carter endete auch die politische Karriere Kissingers. Er schrieb Memoiren, die nach wie vor unübertroffen sind. Mit einem Kurzauftritt in der Fernsehserie Denver Clan wurde er so etwas wie ein politischer Popstar. Als elder statesman war sein Rat gefragt. Mit ihm ist der letzte politische Tycoon des 20. Jahrhunderts von uns gegangen.


Zur Person: em. Univ.-Prof Rolf Steininger hat sich mehrfach zur amerikanischen Außenpolitik unter Nixon und Kissinger geäußert; siehe www.rolfsteininger.at




Buchtipp: Bernd Greiner, „Henry Kissinger. Wächter des Imperiums. Eine Biografie“, München 2020, 480 Seiten













eva

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